Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka
Imogen Seger (1970): Knaurs Buch der modernen Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Soziologen und Soziologie«, S. 11–17). Droemer: München, Zürich.
Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin das Kapitel 5/4 »Gesellschaftsideale und Gesellschaftswirklichkeit«, S. 182– 188). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.
1.4.2 | Strukturen soziologischen Denkens und Forschens |
Trotz der vorgenannten Einschränkungen hat die Soziologie für unseren Alltag dennoch wichtige Funktionen zu erfüllen, wie wir im Folgenden sehen können. Die in diesem Zusammenhang immer wieder neu gestellten Fragen
Was ist eigentlich Soziologie?
Wozu ist Soziologie nütze?
Was kann die Soziologie leisten?
Was bietet sie uns?
lassen sich dabei allerdings nicht ganz so einfach und bündig beantworten, weil es die Soziologie im strengen Sinne eigentlich nicht gibt, sondern immer nur Soziologen verschiedener Schulen und Denkrichtungen. Abgesehen von differenten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Zugängen kommt dann deren Verständnis von Soziologie auch in ihren jeweiligen Lehr- und Forschungsprogrammen zum Ausdruck und lässt sich systematisch etwa so strukturieren:
Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln und zwischenmenschlichen Verhalten;
Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Institutionen und Organisationen;
Soziologie als Wissenschaft von der Gesamtgesellschaft und deren Stabilität und Wandel;
Soziologie als Wissenschaft von den Ideen über die Gesellschaft und als Ideologiekritik.
Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen werden nichts anderes als verschiedene Ebenen der recht komplizierten sozialen Wirklichkeit angesprochen. Ausgehend vom Menschen als soziales Wesen und seinen auf andere gerichteten bzw. an anderen orientierten Handlungen und Verhaltensweisen weisen diese unterschiedlichen Analysedimensionen auf soziologisch unterscheidbare Einflussgrößen und Kontexte hin, was man grafisch vereinfacht so darstellen kann:
Abb. 1: Soziologie als Sozialwissenschaft
Wenn also Soziologen versuchen, Situationen unseres Alltags zu verstehen und zu analysieren, dann versuchen sie, diese Situationen in einen größeren, überindividuellen Zusammenhang zu stellen. Indem die Soziologen das Individuum, das es – per definitionem – als isoliertes Wesen gar nicht gibt, immer als ein soziales Wesen begreifen, suchen sie nach überindividuellen Einflussgrößen und entpersonalisierten Kontextbedingungen von dessen Lebensweise.
Seriös kann man das nur tun, wenn man einerseits das soziale Individuum mit anderen Individuen in der Gesellschaft vergleicht und andererseits zusätzlich noch weitere Ebenen berücksichtigt, mit denen das soziale Individuum in wechselseitig orientierten (Max Weber) Austauschprozessen verbunden ist, die sein Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen:
die Ebene von Kleingruppen (= Mikro-Ebene),
die Ebene von Organisationen (= Meso-Ebene),
die Ebene der Gesellschaft (= Makro-Ebene) und
die Ebene der einer Gesellschaft allgemein zugrunde liegenden Ideen und Ideologien (= Meta-Ebene).
Die Mikro-Ebene wird entsprechend von der Mikrosoziologie untersucht, die mit der Phänomenologie und der Sozialpsychologie eng verwandt ist. Sie befasst sich vor allem mit den Grundbedingungen und -formen sozialen Handelns und Verhaltens im sozialen Nahbereich der sogenannten face-to-face-Beziehungen (z. B. Familie, Freundeskreis). Darüber hinaus erforscht sie aber auch die Prozesse der Wahrnehmung und Interpretation sowie Aneignung und Auseinandersetzung des Individuums mit der es umgebenden Kultur sowie mit gesellschaftlichen Rollen und Normen einschließlich der von den sozialen Normierungen abweichenden Verhaltensweisen. Typisch mikrosoziologische Theorien sind beispielsweise der sogenannte »Symbolische Interaktionismus«, die »Verstehende Soziologie« oder die vom Behaviorismus ausgehende verhaltenstheoretische Soziologie.
Die Meso-Ebene wird vor allem über organisationssoziologische Ansätze erhellt, wobei einzelne Untersuchungen oder vergleichende Darstellungen sowohl den zweckorientierten, d. h. planmäßig gestalteten (Autoritäts-) Strukturen und (Interaktions-)Prozessen in Organisationen (z. B. Industriebetrieben, Verbänden, Parteien, Kirchen, aber auch Bildungsinstitutionen wie Schulen u. a.), wie auch den informellen Prozessdynamiken und -strukturen solcher sozialen Gebilde ihre analytische Aufmerksamkeit schenken.
Der Makro-Ebene wendet sich die sog. Makrosoziologie zu; sie analysiert sowohl große soziale Einheiten und gesamtgesellschaftliche Prozesse wie auch Austauschprozesse zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen (z. B. Wirtschaft, Politik, Bildung). Besonders thematisiert sie dabei die jeweiligen Sozialstrukturen wie Stände, Kasten, Klassen, Schichten oder Milieus. Die damit verbundenen stabilisierenden Bedingungen (»was hält Gesellschaft zusammen?«) bzw. evolutionären oder revolutionären Wandlungsprozesse (»wodurch wird Gesellschaft verändert?«) sind im allgemeinen Gegenstand ihrer Forschung. Grundlegende theoretische Ansätze (Paradigmen) der Makrosoziologie sind z. B. der Struktur-Funktionalismus, die Systemtheorie oder die Konflikttheorie.
Die Meta-Ebene schließlich, die die sozialen Objektivationen gesamtgesellschaftlich übergreifender Norm- und Wertstrukturen, also den ideologischen »Überbau« von Gesellschaften beinhaltet, wird fachlich von der sogenannten Wissenssoziologie bzw. der soziologischen Ideologiekritik bearbeitet.
Wie bei den meisten typologischen Versuchen ist auch diese Aufteilung unserer sozialen Welt in die vier Kernbereiche Kleingruppe, Organisation, Gesellschaft und Ideenwelt eine in erster Linie analytische Trennung und methodische Unterscheidung bzw. ein Versuch fachsoziologischer Strukturierung. In Wirklichkeit sind alle vier Ebenen voneinander abhängig, durchdringen sich gegenseitig und sind deshalb auch in soziologischen Beschreibungs- und Erklärungsversuchen soweit wie möglich theoretisch und empirisch miteinander zu verbinden. Eine diese verschiedenen Bereiche integrierende allgemeine soziologische Theorie sozialer Systeme wurde zwar in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie von einigen großen Soziologen wie z. B. Talcott Parsons (1902–1979) oder Niklas Luhmann (1927–1998) immer wieder versucht, steht jedoch indessen als schlüssige und auch generell akzeptierte »Allgemeine Theorie« noch aus.
Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Verwertung soziologischen Wissens sind überdies die sogenannten materiellen oder »Bindestrich-Soziologien« weit interessanter als die vorgenannten eher theoretischen Differenzierungen und Strukturierungen. Hierbei handelt es sich um problemorientierte Detailforschung in gesellschaftlichen Teilbereichen, die auch inzwischen zu einer ausgeprägten professionellen Spezialisierung innerhalb der Soziologie geführt hat. Solche speziellen und auch weitgehend universitär in einschlägigen Lehrstühlen etablierten Soziologien sind zum Beispiel
Bevölkerungssoziologie,
Migrationssoziologie,
Politische Soziologie,
Soziologie der Entwicklungsländer,
Ethnosoziologie,
Familiensoziologie,
Soziologie der Ehe und Partnerschaft,
Soziologie der Kindheit und Jugend,
Soziologie des Alters,
Erziehungs- und Bildungssoziologie,
Pädagogische Soziologie,
Geschlechtersoziologie,
Religionssoziologie,
Soziologie des Lebenslaufs,
Soziologie der Behinderten,
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