Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka


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Beiträge für eine spätere Theorie des menschlichen Handelns sowie eine differenzierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates lieferten im damals allerdings »revolutionsabstinenten« Deutschland vor allem die großen Philosophen der Romantik bzw. des deutschen Idealismus wie Immanuel Kant (1724–1804), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Schleiermacher (1768–1835), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775– 1854). Auch ist in diesem Zusammenhang der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815–1890) zu nennen, der im deutschen Vormärz die ideologischen und politischen Positionen des in Bewegung geratenen Bürgertums zu klären versuchte.

      Sie und viele andere bedeutende Denker dieser Epoche wurden aufgrund bereits spürbarer tief greifender Veränderungen dazu angeregt, die Gesellschaft ihrer Zeit mit neuen Augen zu sehen:

       An Stelle der traditionellen Agrarwirtschaft, die vor allem auf Selbstversorgung ihrer Angehörigen angelegt war (marktunabhängige Subsistenzwirtschaft), trat in immer stärkerem Maße die Produktion von Waren, die man auf dem Markt gewinnbringend verkaufen konnte. Naturwissenschaftliche Entdeckungen und entsprechende technische Erfindungen und Entwicklungen verstärkten diesen Prozess.

       Für Autoren, die den Beginn der Industrialisierung aus eigener Anschauung und Erfahrung miterlebten, wird die fortschreitende Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung in den Manufakturen und Fabriken und die damit einhergehende berufliche Spezialisierung zu einem besonders auffälligen Vorgang, der die zwischenmenschlichen Beziehungen wie die gesamtgesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändert.

       Die feste Verankerung der Menschen in den sozialen Gruppen und Gemeinschaften, in die sie hineingeboren wurden, begann sich zu lockern. Nicht mehr die Herkunft und Abstammung, sondern das unterschiedliche Maß an Eigentum wurde zunehmend als die große Quelle der Distinktion zwischen den Menschen erkannt. Folglich wurden auch die herkömmlichen Überlieferungen, traditionellen Symbole und Sitten einer ständischen Gesellschaft längst nicht mehr von allen als selbstverständlich und unveränderbar begriffen.

       Insbesondere das aufsteigende Bürgertum rüttelt jetzt an der jahrhundertelang unangefochtenen Herrschaft des Adels und beginnt, seine eigenen Interessen zu artikulieren. Es postuliert in seiner neuen Philosophie ein in erster Linie rational handelndes Individuum, das – dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt entsprechend – von feudal-klerikalen Bevormundungen und berufsständischen Bindungen sowie von ideologischen Einengungen und Einschränkungen vitaler Bedürfnisse befreit sein sollte.

       Neue gesellschaftliche und politische Ordnungen werden diskutiert und in zunehmendem Maße auch praktisch ausprobiert, – in England bereits im 17. Jahrhundert in pragmatischen Kompromissen zwischen dem Adel und dem selbstbewussten Bürgertum, in Frankreich erst später im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den damit verbundenen sozialen und politischen Erfahrungen von Revolution und Kaiserreich.

      Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass die »stillere« industrielle Revolution insgesamt tiefer greifende und andauerndere Umwälzungen im sozialen Alltag bewirkte als die diversen politischen Veränderungen und spektakulär lärmenden Revolutionsakte in dieser Zeit.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Friedrich Jonas (1981): Geschichte der Soziologie I. Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft (mit Quellentexten). (Darin exemplarisch Jean-Jacques Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechts«, S. 355–363.) 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen.

      Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Von den Anfängen der Soziologie: Hoffnung auf eine neue Welt«, S. 11–26.) 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

      Gerhard Möbius (1964): Die Politischen Theorien von der Antike bis zur Renaissance. 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen

1.5.2Die Großväter der Soziologie: Soziologie als Fortschrittstheorie und Universalwissenschaft im 19. Jahrhundert

      Eine präzise Aussage, wer denn nun eigentlich als Begründer der Soziologie zu gelten habe, lässt sich kaum machen. Sicherlich sind die – als eigentliche founding fathers oder »Großväter« der Soziologie im Sinne einer Universalwissenschaft – immer wieder genannten Autoren des 19. Jahrhunderts wie Auguste Comte Herbert Spencer oder Karl Marx ohne die Vorarbeiten der Aufklärung sowie der verschiedenen Varianten der Vertragstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau) oder der Vordenker eines (auch revolutionären) sozialen Wandels nicht denkbar.

1.5.2.1Auguste Comte

      Das Hauptanliegen von Auguste Comte (1798–1857), auf den, wie wir schon gesehen haben, der Begriff Soziologie ja zurückgeht (vgl. Abschnitt 1.3.2), war der wissenschaftliche Entwurf einer für seine Zeit passenden sozialen und politischen Ordnung. Aus einem sozialreformerischen Elan heraus suchte er, wie andere vor und nach ihm, nach den Gesetzmäßigkeiten der Menschheitsentwicklung, um störende Einflüsse auf den »sozialen Organismus« auszuschalten, bei unvermeidlichen Krisen »weise zu intervenieren« (»savoir pour prévoir, et prévoir pour prévenir«) und den »naturgeschichtlichen Entwicklungen« der Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. hierzu A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, in Jonas, I, 1981, 419 ff.). Als erklärter Gegner jeglicher Metaphysik waren für ihn Fragen nach dem Sein oder Spekulationen nach Sinn- und Zweckzusammenhängen der Geschichte müßig. Vielmehr stellte sich für ihn die Geschichte der Menschheit als eine lineare Entwicklung des Verstandes dar, die nach festen Gesetzen abläuft.

      In Weiterführung entsprechender Ansätze seiner Landsleute Turgot, Condorcet und vor allem Saint-Simon entwarf er ein geschichtsphilosophisches Schema als Grundlage seiner wissenschaftlichen Perspektive, das sogenannte Dreistadiengesetz: Nach Überwindung einer vorausgegangenen theologischen und metaphysischen Epoche folge jetzt ein »positives« Zeitalter, das von der Soziologie als der neuen Königin aller Wissenschaften bestimmt werde. Diese »positivistische« Aufklärung verband Comte mit einer Heilslehre der Vernunft, in der der Soziologie gleichfalls die entscheidende Rolle zugedacht war. Ähnlich der in den aufblühenden Naturwissenschaften angewandten und erstaunlich erfolgreichen Methoden sollten auch auf die sozialen Organisationen rationale Denkweisen und Verfahren angewandt werden, um zu ähnlich »positiven« Resultaten zu gelangen.

      Mit anderen Worten: Die »positive« Soziologie sollte – wie Comte sich ausdrückte – nur über die sorgfältige Beobachtung und Beschreibung sinnlich wahrnehmbarer Tatbestände in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, d. h. über erfahrbare, sogenannte »objektive Tatbestände«, zu »allgemeingültigen sozialen Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen« gelangen. Von den so gewonnenen Einsichten versprach er sich – ähnlich der technischen Verwertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse – wichtige Hinweise für eine stabilere Neugestaltung und praktisch-politische Steuerung von Gesellschaften im Sinne einer modernen Sozialtechnik, die letztlich allen ein Höchstmaß an Glück und Zufriedenheit eröffnen könne.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Raymond Aron (1979): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 1. Band. (Darin »Auguste Comte«, S. 71–130). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

      Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Auguste Comte«, S. 62–66). Westdt. Verlag: Opladen.

      Auguste Comte (1981): Rede über den Geist des Positivismus. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 419–433. Westdt. Verlag: Opladen.

      Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie (Darin »Der ›erste‹ Soziologe: August Comte«, S. 27–41). 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

1.5.2.2Herbert Spencer

      Auch Herbert Spencer (1820–1903), dessen berühmte dreibändige »Principles of Sociology« zwischen 1876


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