Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka


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Das Proletariat übernimmt durch die »Expropriation der Expropriateure« revolutionär die Produktionsmittel, eliminiert die Bourgeoisie und verwirklicht schließlich als letzte der in der Weltgeschichte auftretenden sozialen Klassen die »klassenlose Gesellschaft«. In dieser letztlich »kommunistischen Gesellschaft« wird es nach Marx dann keine Spannungen, keine Klassenbildung und auch keine weiteren Revolutionen mehr geben, da sich diese Gesellschaftsstruktur ständig mit den wechselnden Produktivkräften verändere. Erst dort könne sich das Individuum frei von materiellen und geistigen Zwängen entfalten.

      Unter der Annahme, der Mensch verhalte sich ebenso berechenbar wie Elemente in der Natur, war Marx davon überzeugt, der historische Ablauf sei ebenso determiniert wie natürliche Vorgänge, für freie menschliche Entscheidung bleibe deshalb wenig Raum. Von daher war er sicher, den naturgesetzlich festliegenden Ablauf der Geschichte erkannt zu haben, d. h. das Bestimmungsziel aller gesellschaftlichen Prozesse vorhersagen zu können.

      Wir wissen heute, dass die Voraussagen von Marx großteils und gerade in entscheidenden Punkten falsch waren und nicht eingetroffen sind, und zwar nicht nur seine utopischen Prophezeiungen, sondern auch seine kurzfristigen wirtschaftlichen Prognosen. Dennoch liegt die Bedeutung von Marx auch noch für die heutige Soziologie vor allem darin, dass er Fragen aufgeworfen hat, die grundsätzlich immer wieder neu zu stellen und zu untersuchen sind, nämlich:

       Inwieweit wirkt sich der gesellschaftliche Standort (= die Klassenlage in der Terminologie von Marx) auf die Art und Struktur des Denkens aus? Kann das Auftreten oder Fehlen bestimmter geistiger Ideen aus gesellschaftlichen Umständen erklärt werden?

       Welchen Einfluss nehmen ökonomische Faktoren auf das übrige soziale Geschehen und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Politik?

       Welche Funktionen haben soziale Konflikte in der Gesellschaft? Welche Verlaufsformen entwickeln sie? Wie werden Gesellschaften zusammengehalten, wenn ihre Teile in dauerndem Konflikt miteinander stehen?

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Karl Marx«, S. 309–316). Westdt. Verlag: Opladen.

      Iring Fetscher (1985): Karl Marx und der Marxismus. Von der Ökonomiekritik zur Weltanschauung. (Darin insbes. S. 16–43). 4. Aufl. Piper: München.

      Karl Marx & Friedrich Engels (1981): Manifest der Kommunistischen Partei I. Bourgeois und Proletarier. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 401–408. Westdt. Verlag: Opladen.

      Oskar Negt (2007): Karl Marx. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 273–293. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

      Karl R. Popper (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 8. Aufl. Mohr (Siebeck): Tübingen.

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      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede in den Problemstellungen und in den Antwortversuchen bei den Begründern und »Großvätern« der Soziologie im 19. Jahrhundert – exemplarisch dargestellt anhand der soziologischen Perspektiven von Comte, Spencer und Marx – noch sehr viel größer sind als in der heutigen Soziologie. Unsere etwas saloppe, jedoch nicht respektlos gemeinte Bezeichnung »Großväter der Soziologie« bezieht sich daher eher auf die Gemeinsamkeit des Alters als die der intellektuellen Tradition. Andererseits gibt es aber auch Gemeinsamkeiten, die diese Gründungsphase der Soziologie charakterisieren. Sie sind vor allem in der gemeinsamen Suche nach den Grundlagen des sozialen Wandels, insbesondere nach den Hauptfaktoren der krisenhaften Veränderungsprozesse von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft zu erkennen.

      Diese Suche nach der Idee der »natürlichen« Gesetzmäßigkeit aller gesellschaftlichen Dynamik wurde zum typischen Merkmal für die Makrosoziologie des 19. Jahrhunderts. Soziologie wurde hierbei je nach Akzent als universale Wissenschaft vom gesamtgesellschaftlichen Wandel verstanden. Ihren Ausdruck fand sie dann in den Varianten einer linearen Fortschrittstheorie oder auch eines evolutionären Fortschrittsglaubens. Denn soviel auch Comte, Spencer oder Marx von »positiven«, »wissenschaftlichen« oder »materialistischen« (was übrigens Marx synonym mit »empirisch« verstanden wissen wollte) Tatsachen sprachen, so war ihre neue Wissenschaft doch vom Ausgangspunkt und vom Ziel her – offen oder versteckt – eher eine Gesellschaftsphilosophie als eine objektive sozialwissenschaftliche Analyse.

      So sieht man – trotz unstreitig bedeutender Einsichten und Beiträge der soziologischen »Großväter« – viele ihrer Aussagen und Folgerungen als zu einseitige Spekulationen an, »weil sie sich entweder zu stark auf Abstraktion stützen oder irgendwelche natürlichen Charakteristika oder auffallenden Formen in den Vordergrund stellen und alle Beobachtungen diesen Vorstellungen unterordnen« (Barley 1978, 3).

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Helmut Klages (1972): Geschichte der Soziologie (Darin 4. Kapitel »Europäische Soziologie im 19. Jahrhundert seit der industriellen Revolution«, S. 65–94).. 2. Aufl. Juventa: München.

      Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 2 »Soziologie im 19. Jahrhundert: Comte, Spencer, Marx«, S. 29–73). 2. Aufl. UVK: Konstanz.

1.5.3Soziologie als Erfahrungswissenschaft: Die Klassiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts

      War es das große Verdienst der soziologischen Gründungsväter, die beobachtbare soziale Wirklichkeit als das eigentliche Feld des soziologischen Forschens bestimmt zu haben, so war es einer neuen Generation von Sozialwissenschaftlern vorbehalten, die Dimensionen und Grenzen dieses Feldes auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage inhaltlich und methodisch präziser zu bestimmen. Diese gemeinhin als »Klassik der Soziologie« bezeichnete Epoche begann mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und ging schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu Ende. Dies hing zusammen mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und den unglücklichen Folgen nationaler Isolierungen sowie mit der bei allen akademischen Disziplinen üblichen Herausbildung von meist an bestimmten Denktraditionen bzw. deren Protagonisten orientierten wissenschaftlichen »Schulen«, die sich auf verschiedene Theorien oder methodische Positionen versteiften und sich auch teilweise (bis heute noch) entschieden »bekämpften«.

      Als wichtigste Vertreter der klassischen Periode der Soziologiegeschichte sind hier – zumindest im europäischen Raum – vor allem zu nennen:

       Max Weber (1864–1920),

       Georg Simmel (1858–1918),

       Vilfredo Pareto (1848–1923) und

       Emile Durkheim (1858–1917).

      Überblickt man das Lebenswerk dieser soziologischen Klassiker am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so ist kennzeichnend, dass diese Autoren zunehmend klarere Vorstellungen über die tatsächlichen theoretischen und methodischen Schwierigkeiten gewannen, die komplizierten Verwicklungen und Verflechtungen innerhalb sozialer Gruppen oder gar ganzer Gesellschaften zu entwirren, sich aber dennoch ohne Illusionen auf dieses gewagte Forschungsabenteuer einließen. In ihrer Zeit entstand die Soziologie als eine echte Wissenschaft von der Gesellschaft, konzipiert als Erfahrungswissenschaft, die auf Beobachtung, systematischem Vergleich und Experiment aufbaut. Wenn auch die Soziologie damals noch kaum als eigenständiges Fach an den Universitäten gelehrt wird, sondern meist in Verbindung mit Nationalökonomie, Staatswissenschaften oder Pädagogik in Erscheinung tritt, so wird mit dieser »klassischen« Periode doch die allmähliche universitäre Verortung und Institutionalisierung der Soziologie zumindest vorbereitet. Für ihre Vertreter bedeutete dies u. a., dass sie nicht mehr wie die früheren soziologischen Denker »sich als freie Schriftsteller und Privatgelehrte allein gegen die ganze Welt stellen mussten« (Seger 1970, 58), sondern in ihrer Forschung und Lehre auch einen gewissen akademischen Rückhalt fanden.

      Und noch etwas wird für die Soziologen dieser Generation charakteristisch:


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