Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka


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align="left">Die lange Vorgeschichte:Von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

      Gelegentlich mag der Eindruck entstehen, Soziologie sei eine hochmoderne, eher geschichtslose Wissenschaft, die sich weder um ihre eigene Geschichte noch um historische Prozesse viel kümmere. Tatsächlich lässt sich aber die Soziologie – zumindest in ihrer Vorgeschichte – zurückführen bis in die Antike und das Mittelalter. Schon Platon, Aristoteles, die Sophisten oder Thomas von Aquin haben sich mit elementaren Problemen des menschlichen Zusammenlebens kritisch auseinandergesetzt.

      Der österreichisch-britische Philosoph, Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper (1902–1994) etwa sieht (in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«) »Platons Größe als Soziologe in der Fülle und der Detailliertheit seiner Beobachtungen sowie in der erstaunenswerten Schärfe seiner soziologischen Intuition. Er sah Dinge, die man vor ihm nicht gesehen hatte und die erst in unserer Zeit wieder entdeckt worden sind.« (Popper 1975, I, 68). Wie »modern« Platon (427–347 v. Chr.) in seiner Staats- und Gesellschaftslehre in gewissem Sinne ist, lässt sich beispielsweise an der Wahl seiner Themen erkennen: »Dazu gehören die Prinzipien und Auswirkungen der Arbeitsteilung, die Gefahren des Privateigentums, der Zusammenhang zwischen Luxuskonsum und Expansion des Wirtschaftsraumes, die entfremdenden Folgen der Geldwirtschaft, die Entstehung von Ständen, die Geschichte der Gesellschaft als Geschichte von Standeskämpfen, die Spaltung von Eliten als Voraussetzung von Revolutionen« sowie die Einbindung dieser mehr theoretischen Überlegungen »in einen historischen Zusammenhang, der von der patriarchalischen Viehzüchterfamilie zur Sippenorganisation, [bis hin] zur Dorf- und Städtebildung mit monarchischer Verfassung und gesetztem Recht nach dem Muster eines Gesellschaftsvertrages reicht« (Rüegg 1969, 25). Ähnliche soziologische Perspektiven finden sich auch bereits bei den Sophisten, die die Gesellschaft ihres religiösen Nimbus und metaphysischen Schleiers zu entkleiden suchten und sie als Ergebnis menschlichen Handelns und sozialer Übereinkunft betrachteten.

      Auch Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.), dessen Schrift »Politik« nach der Einschätzung des amerikanischen Soziologen Franklin H. Giddings (1855–1931) das bedeutendste Werk ist, das jemals die menschliche Gesellschaft behandelt hat, ist in dem Sinne bereits »modern«, als Aristoteles zur Grundlegung seiner sozialen und politischen Erkenntnisse zunächst auf die sozialphilosophisch üblichen, wertgeladenen Spekulationen verzichtete. Dafür sammelte er erst einmal umfangreiches empirisches Material und versuchte so in seinen Arbeiten bereits jenem Anspruch einer möglichst werturteilsfreien Erfahrungswissenschaft gerecht zu werden, der heute als fundamentale Voraussetzung für soziologisches Denken eingefordert wird. Denn »wer irgendeinen Zweig des Wissens wirklich wissenschaftlich behandeln und nicht bloß auf das Praktische sein Augenmerk richten will, dem kommt es zu, nichts zu übersehen oder unberührt zu lassen, sondern die Wahrheit über ein jedes zu Tage zu fördern« (Aristoteles, Politik, III, 5).

      Von Aristoteles stammt übrigens auch jene berühmte Aussage, die später u. a. auch von Thomas von Aquin (1225–1274) wieder aufgegriffen wurde: nämlich dass der Mensch ein soziales Wesen sei (»ánthropos zóon politikón«, Politik, I, 2) – eine Kurzformel, in der im Grunde genommen bereits das spätere Forschungsprogramm der Soziologie enthalten ist, wenn auch ein noch sehr weiter Weg zur Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin blieb. Denn »trotz der überragenden Leistungen des Aristoteles vermochten die Griechen nicht zur Soziologie als einer spezifischen Wissensdisziplin vorzudringen, da ihnen das Vermögen fehlte, zwischen Staat und Gesellschaft deutlich zu unterscheiden, so dass sie die sozialen Beziehungen niemals völlig unabhängig von ihren politischen Aspekten betrachteten, ja im Zweifelsfall dem politischen Aspekt stets Priorität vor dem sozialen einräumten« (Eisermann 1973, 4).

      Das Mittelalter führte auf diesem Weg nicht weiter. Die starke Bindung an Autoritäten sowie das vorherrschende Interesse am »Wesen der Dinge«, d. h. an der »richtigen Ordnung« der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer »vollkommenen Gesellschaft« (»societas perfecta«, Thomas von Aquin) standen einer strikt erfahrungswissenschaftlichen und undogmatischen Auffassung von Gesellschaft im Wege.

      Relativ isoliert und ohne unmittelbaren Einfluss auf die Soziologie blieb auch der Berber Ibn Chaldun (1333–1406), der – in heute erstaunlicher Aktualität – in seinen Auseinandersetzungen mit der arabisch-islamischen Orthodoxie und ihrem Fundamentalismus die mittelalterlichen Fesseln der unbedingten Autoritätsgläubigkeit zerbrach und methodisch über die Beobachtung und rationale Analyse des menschlichen Zusammenlebens vielleicht als Erster die menschliche Gesellschaft zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft zu machen versuchte. Nicht umsonst knüpfen an ihn einige spätere soziologische Denker des 19. Jahrhunderts wie Frédéric Le Play, Karl Marx, Ludwig Gumplowicz und Franz Oppenheimer wieder an.

      Als weiterer Vorvater der Soziologie kann sicher auch der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469–1527) gelten, der sich zu Beginn der italienischen Renaissance gegen jeglichen scholastischtheologischen Dogmatismus wandte und die sozialen Gleichförmigkeiten in Geschichte, Gesellschaft und Politik einer rein auf Erfahrung und Beobachtung beruhenden empirischen Analyse zu unterziehen suchte. Insbesondere in seiner 1532 erschienenen Schrift »Über den Fürsten« (Il Principe) stellt er nachdrücklich fest, dass die Menschen betrachtet werden müssten, wie sie sind und nicht, wie sie nach bestimmten Glaubenssätzen zu sein hätten. In seinem konsequenten Realismus verfocht er die These, dass das soziale Handeln des Menschen aus seinen Antrieben heraus verstanden werden müsse. Hierzu lieferte er im Principe bereits eine klassische sozialpsychologische Studie über die Ursachen und Effekte verschiedener Motivstrukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Außerdem begründete er mit dieser Schrift eine Klassifikation politischer Herrschaft und legte eine bis heute häufig zitierte Liste bestimmter moralischer Eigenschaften des Regierenden und seiner Macht- und Herrschaftstechniken im Hinblick auf eine möglichst effiziente Ordnung und Zielerreichung vor. Seitdem sind allerdings auch der Begriff des Machiavellismus und die damit verbundene Vorstellung einer skrupellosen Politik immer wieder Gegenstand macht- und herrschaftstheoretischer Diskussionen.

      Die eigentliche zusammenhängende Vorgeschichte der Soziologie beginnt jedoch wohl erst mit der Krise des absolutistischen Staates, jener »crise de la conscience européenne« (Hazard 1935), die die Gesellschaftslehre der Aufklärung hervorbrachte und zur Trennung von Staat und Gesellschaft führte. Neben vielen, in erster Linie philosophisch orientierten Beiträgen zur Gesellschaft und Politik ihrer Zeit (vgl. hierzu Jonas 1981, 12 ff.) werden jetzt für die erwachende Soziologie insbesondere jene Arbeiten begründend, die die Gesellschaft aus dem globalen philosophischen und theologischen Problembezug lösen und die bislang selbstverständliche Geltung von tradierten Werten und Institutionen in Frage stellen.

      Hierzu zählen z. B. in England die staatspolitischen Schriften von Thomas Hobbes (1588–1679), insbesondere dessen Abhandlung »Leviathan« von 1651, sodann die Vertreter eines empirischen Skeptizismus wie John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) sowie die Theoretiker der sogenannten Schottischen Schule Adam Smith (1723–1790), Adam Ferguson (1723–1816) und John Millar (1735–1801).

      In Frankreich wird diese Entwicklung vor allem von Montesquieu (1689–1755) vorangetrieben, der seine zeitgenössische Gesellschaft einer beißend-ironischen Kritik unterzog und im Anschluss daran eine historisch-analytische Theorie des sozialen Wandels entwarf. In ähnlicher Weise profilieren sich nicht nur Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und der Marquis de Condorcet (1743–1794) als engagierte Kritiker einer moralisch verrotteten, feudalen Rokoko-Gesellschaft, sondern auch der zu den Frühsozialisten zählende Comte de Saint-Simon (1760–1825).

      Wichtige vorsoziologische Quellen sind beispielsweise nicht nur Rousseaus berühmt gewordene Abhandlung über den »Gesellschaftsvertrag« (Du contrat social, 1762), sondern auch seine Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon (»ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beitrage«, 1750), in der der Autor nachhaltig und kompromisslos die von der Akademie gestellte Frage verneint und seine Auffassung insbesondere mit den Folgen der sozialen Ungleichheit begründet. Diesen Gedanken führt er dann in der Abhandlung »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1755)


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