Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka


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Soziologie ausüben sollte) war überzeugt, einen Weg gefunden zu haben, der es ihm ermöglichte, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit zu verstehen. Er ging davon aus, dass alle Formen des sozialen Lebens, die kleineren zwischenmenschlichen Verflechtungen wie die größeren sozialen Gruppen und Organisationen und erst recht das Ganze der Gesellschaft als soziale Organismen aufzufassen seien.

      Ebenso wie bei den individuellen Organismen von Menschen, Tieren oder Pflanzen liege auch den sozialen Organismen eine eigene Dynamik zugrunde. Hier wie dort bedeute dies »Wachstum« im Sinne der Vermehrung von Grundelementen oder Bausteinen (z. B. im gesellschaftlichen Bereich: Vermehrung der Bevölkerung), aber auch »Entwicklung« im Sinne einer natürlichen Evolution von niederen zu höheren, von einfachen zu komplexeren Gebilden (in der Gesellschaft: die vielfältigen Zusammenschlüsse kleinerer Einheiten zu größeren sozialen »Geweben« der verschiedensten Art, z. B. der Familien zur Verwandtschaft, der Verwandtschaften zu Sippen, der Sippen zu Stämmen, der Stämme zu Völkern, der Völker zu Staatengemeinschaften usw.). Schließlich: Wie es im Leben der natürlichen Organismen Steuerungsprogramme gebe, die das Zusammenwirken der einzelnen Elemente und Teile regulieren, so gebe es auch in der Gesellschaft Regulierungen, die dafür sorgten, dass der soziale Organismus überdauere und arbeitsteilige Differenzierungen auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet durch Prozesse der Verflechtung und Integration wieder aufgefangen würden. Spencer fasst dies in seiner universalen Weltformel zusammen: »Vom Aggregat zum System« und versteht Soziologie als Studium der Evolution.

      Daher war er davon überzeugt, dass die beobachtbaren Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Bereich insgesamt als Fortschritt anzusehen seien und letztlich auf eine vollkommenere und bessere Welt von freien und verantwortungsvollen Individuen hinausliefen. Zwar ließen sich diese evolutionären Vorgänge gedanklich erfassen und unterstützend steuern, doch als Anhänger des Darwinismus hielt es Spencer für eher störend bzw. für weitgehend zwecklos, in die mit jedem Fortschritt im Bereich des Lebens verbundenen Prozesse der natürlichen Auslese (Darwin: »survival of the fittest«) etwa durch sozialpolitische Aktivitäten (z. B. durch Unterstützungsprogramme für Behinderte, Kranke, Bildungsschwache, Arme, Obdachlose usw.) einzugreifen. Im Gegenteil: Je weniger politische Regulierung und Kontrolle, desto besser. Der gesellschaftliche Organismus bzw. das soziale System sei auch dank der »überragenden Weisheit der Natur« ohne Herrschaft und Zwang denkbar, ja eine liberale Anarchie als Idealzustand sogar wünschenswert.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch, (Darin »Herbert Spencer«, S. 532–540). Westdt. Verlag: Opladen.

      Ralf Dahrendorf & Colin Crouch (1980): Herbert Spencer. In Wilhelm Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon. Band 1, S. 406–408. Enke: Stuttgart.

      Michael Kunczik (1999): Herbert Spencer. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 74–93. Beck: München.

      Herbert Spencer (1981): »Die Prinzipien der Soziologie« (The Principles of Sociology). In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 441–444. Westdt. Verlag: Opladen.

1.5.2.3Karl Marx

      Selbst ein kursorischer Überblick über die Soziologiegeschichte kann Karl Marx (1818–1883) als Soziologen nicht unerwähnt lassen. Dabei liegt die Bedeutung von Marx weniger im Gehalt seiner soziologischen (und ökonomischen) Theorien begründet, als vielmehr in deren faktischen Wirkungen auf die soziale und politische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und in der Faszination, die der Marxismus auf Generationen von Gelehrten und Sozialreformern ausübte. Dies ist wohl nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass es nicht ganz einfach ist, den Soziologen Karl Marx von Karl Marx als dem spekulativen Philosophen und rigorosen Moralisten sowie dem sozialistischen Agitator und Propheten der Revolution zu lösen.

      Wie jeder Denker übernahm auch Marx Vorstellungen anderer und deutete sie, seinen Prämissen folgend, entsprechend um. So entlehnte er von dem Philosophen des deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel das geschichtsphilosophische Konzept, übernahm von dem Staatsrechtler Lorenz von Stein den Klassenbegriff und die Vorstellung der Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen und gewann seine volkswirtschaftlichen Überlegungen in Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen des englischen Nationalökonomen David Ricardo. Von den Positivisten seiner Zeit unterschied sich Marx dadurch, dass er durchaus noch Sinnfragen stellt und folglich seinen soziologischen Ansatz offen in sein philosophisches System einbettet. Andererseits glaubt er wie sie und die Aufklärer des 18. Jahrhunderts noch fest an eine stetige Entwicklung der Geschichte im Sinne eines linearen Fortschritts. Von den aufstrebenden Naturwissenschaften und ihren Erfolgen ebenso fasziniert wie Auguste Comte und andere Denker seiner Zeit suchte auch er nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten in den historischen Abläufen, um die Wandlungen der Gesellschaftsstruktur durch Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge erklären und künftige Entwicklungen sicher prognostizieren zu können.

      In seiner – in Zusammenarbeit mit seinem Freund Friedrich Engels (1820–1895) entwickelten – Theorie des »historischen Materialismus« stellt er das Gedankengebäude Hegels »auf den Kopf« und wählt als analytische Basis die »materiellen« Bedingungen des Lebens. Danach sind die jeweiligen religiösen, ideologischen und politischen Strukturen einer Gesellschaft nur von der Struktur ihrer Basis, d. h. von den Strukturen der materiellen Produktion her einsichtig zu machen und zu verstehen. In anderen Worten: Nicht das Bewusstsein der Menschen prägt ihr Sein, sondern umgekehrt bestimmt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein. Marx’ Ziel ist von daher die Anbahnung eines permanenten Entideologisierungs- und Selbstaufklärungsprozesses der Gesellschaft.

      Marx bleibt jedoch nicht bei der bloßen Ideologiekritik stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter zur revolutionären Praxis. Demnach ist die Entwicklung der Gesellschaft bestimmt durch einen dialektischen, d. h. in Widersprüchen sich vollziehenden Prozess, der durch ökonomische Faktoren ausgelöst und in seinem Fortgang bestimmt wird:

      »Diese wirtschaftlichen Faktoren sind die Produktionsmittel und die Produktionsformen, die zu den Mitteln gehören. Jedes System wirtschaftlicher Produktion ist zunächst einmal ›richtig‹ für die Produktionsmittel einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes und schafft sich seine soziale Ordnung und seinen ganzen ›Überbau‹ von Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie samt dem Selbstverständnis, den Regeln und Sitten der Bevölkerung. Es ist eine ›These‹. Doch schon erscheint die ›Antithese‹ in Gestalt technischen Fortschritts und neuer, besserer Produktionsmittel. Die alten Produktionsformen und die alte soziale Ordnung hindern die Entwicklung der neuen, bis diese stark genug geworden sind, durch eine soziale Revolution die neuen Produktionsmittel einzuführen – und damit eine neue Ordnung wirtschaftlicher Produktion und eine neue soziale Ordnung. Dies ist dann die ›Synthese‹, die im Laufe der weiteren Entwicklung zur ›These‹ wird« (Seger 1970, 40).

      Die Auseinandersetzung zwischen den alten und den neuen Produktionsmitteln wird auf der gesellschaftlichen Ebene im Klassenkampf abgebildet. Die neuen Mittel werden jeweils durch die neu aufgestiegene Klasse vertreten: »Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten« (Marx). Entsprechend formuliert Marx das allgemeine »ökonomische Bewegungsgesetz« für sozialen Wandel: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. Auf die Epoche der Sklaverei folge die der Fronarbeit im Feudalismus und schließlich die Gesellschaftsformation der kapitalistischen Produktionsweise.

      Für Marx’ Diagnose seiner Zeit bedeutete dies, dass die bürgerliche Gesellschaft, die »Bourgeoisie« wie er sie voller Verachtung nannte, mit ihrer kapitalistischen Produktion und der Erzeugung eines falschen Bewusstseins die »These« präsentierte, die proletarischen Arbeiter dagegen als »Antithese« die zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsformen verhießen. Der soziale Antagonismus zwischen der durch Zentralisation und Konzentration des Kapitals immer kleiner werdenden Klasse der Kapitalisten und der proportional immer größer werdenden


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