Gleichnisse. Kurt Erlemann
Gleichnisse seien ein Offenbarungsmedium sui generis und die Realisierung des Reiches Gottes ein Sprachereignis (→ 2.2.3d; 2.5.4d).
Die Gleichnisform gilt in der Folge aufgrund ihrer Fiktionalität und Narrativität als unersetzbar, da nur sie einen ‚metaphorischen Prozess‘ in Gang setzen könne, der zur Entdeckung der Wirklichkeit Gottes führt. Dies gilt, so Harnisch, nur für die mündlichen Gleichnisse; die Verschriftlichung führe zu einem ‚Sprachverlust‘.1 – Die jüngste Gleichnisforschung betont das Wechselspiel zwischen rhetorisch-argumentativer und poetischer Gleichnisfunktion (→ 2.3c). Vergleichende Rede setze nicht-vergleichende Argumentation mit anderen Mitteln fort. Der Rückgriff auf vergleichende Sprache biete den Vorteil, dass das argumentative Lernziel nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv-praktisch vermittelt wird. Gleichnisse seien Jesu Kampf um die Herzen der Menschen (vgl. → 2.2.6b).2
2.4.4 Kontextualität / Autorintention vs. ästhetische Autonomie / Leserzentriertheit
Für Vertreter der Kontextgebundenheit der Gleichnisse ist die Bedeutungsrichtung eines Gleichnisses durch seinen historischen bzw. literarischen Kontext und durch die Intention des Autors vorgegeben. Der Kontext gilt als die maßgebliche Instanz, die über den Textsinn entscheidet. Dem entspricht das Verständnis vom Gleichnis als einem rhetorischen Argumentationsmittel. Vertreter der po(i)etischen Sichtweise betonen hingegen die prinzipielle Deutungsoffenheit des Gleichnisses im Sinne ästhetischer Autonomie (→ 2.2.6g). Damit erscheint der Textsinn abgelöst von kontextuellen Faktoren; das Gleichnis entwickle als poetisches Kunstwerk eine Eigendynamik, was den Textsinn anbelangt. Die Sinnkonstitution ergebe sich im individuellen Rezeptionsvorgang jeweils neu und vielgestaltig.1 Diese Auffassung korreliert mit der vom Sprachereignis, das je und je in der Begegnung mit der Gleichnisbotschaft stattfinde. Die historische Analyse zur Erschließung des ursprünglichen Textsinns wird hier als inadäquat abgelehnt.2 Das, worum es im Gleichnis geht, sei überzeitlich und betreffe die Menschen aller Zeiten und Kulturen gleichermaßen. Die narrativ-poetische Gleichnisform sorge dafür, dass sich der theologische Bezugsrahmen je und je neu und unmittelbar, ohne Rekurs auf historische Gegebenheiten, ergibt (→ 2.2.3; 2.5.3a; 2.5.4d).3
2.4.5 Theologische Inhalte vs. ‚Sprachereignis‘
Ist das Gleichnis ein Sprachereignis, ist sein Inhalt ein Ereignis, das sich je und je im Hören oder Lesen des Gleichnisses einstellt – eine individuelle Begegnung mit der Gottesherrschaft und deren aktuelle Realisierung (→ 1.5.11; 2.2.3d). Der Akzent liege auf dem punktuellen Geschehen der Glaubenserfahrung bzw. Offenbarung Gottes im Gleichnis; das sei die poíesis des po(i)etisch wirkenden Textes.1 Hier einen theologischen Bezugsrahmen suchen zu wollen, wäre verfehlt. – Anders die rhetorisch-argumentative Sichtweise: Das Gleichnis transportiere als Teil eines historischen Kommunikationsgeschehens einen theologischen Inhalt (→ 2.2.6b; 2.5.6), woraus sich die Frage nach dem historischen Textsinn bzw. nach der Autorintention und den Rezeptionsbedingungen der Adressaten ergibt.
Diese Alternative spaltet nach wie vor die Gleichnisforschung in zwei Lager. Gegen die Theorie vom Sprachereignis wird kritisch eingewandt2: a) Die Realisierung der Gottesherrschaft im Vollzug des Hörens des Gleichnisses sei nicht überprüfbar; b) Nachprüfbar sei die Vermittlung komplexer religiöser Erfahrung; c) Die Rede vom Sprachereignis sei eine reine Glaubenswahrheit und apologetisch (Dokumentation der Einzigartigkeit der Predigt Jesu; → 2.4.6; 2.5.4d); d) Die Reduktion des theologischen Inhalts auf die Gottesherrschaft werde von den Gleichnissen nicht gedeckt (→ 2.5.6). – Die Alternative entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Scheinalternative: Rhetorik und Poetik gehen beim Gleichnis Hand in Hand, historisches Verstehen und affektives Angerührtsein ebenso. Die Gottesherrschaft (oder was auch immer als theologischer Bezugsrahmen des Gleichnisses anzusehen ist) gewinnt im Gleichnis Konkretion; dieser poetische Aspekt der Gleichnisse ist jedoch nicht loszulösen von dem rhetorisch-argumentativen Aspekt (→ 2.5.3b).
2.4.6 Mündliche vs. schriftliche Gleichnisse
Diese Entgegensetzung schlug sich ab der ‚metaphorischen Wende‘ in der hermeneutischen Hochschätzung der mündlichen Gleichnisrede Jesu als Sprachereignis und in der Negativbewertung des Verschriftlichungsprozesses nieder (→ 2.2.3dg; 2.5.5b).1 Dem wird in der neueren Gleichnisforschung widersprochen; das Postulat einer kontextfreien Rezeptionssituation erscheint demnach ebenso fragwürdig wie die hermeneutische Abwertung der schriftlichen Endgestalt der Gleichnisse.2 Das apologetische Interesse, die Einzigartikeit der Gleichnisrede Jesu herauszustellen, deute außerdem auf dogmatische Voreingenommenheit der Exegeten hin (→ 2.2.4; 2.5.8).
2.4.7 Auslegungsbedarf vs. -abstinenz
Jülicher lehnte die Deutung der Gleichnisse ab, da sie ursprünglich keinerlei Deutung benötigten (→ 2.1). Vertreter der Sprachereignis-Theorie lehnen die Deutung ab, da weder der historisch-literarische Kontext noch die Autorintention für das Verstehen ausschlaggebend seien. Vielmehr sei die Wirkung der Erzählung im Sinne eines ‚metaphorischen Prozesses‘, in welchem sich Gottes Liebe und Herrschaft realisierten, entscheidend (→ 2.2.3). Auslegungsabstinenz ist, so gesehen, die Folge einer verengten Sichtweise (das Gleichnis als rhetorisch-argumentative oder als po(i)etische Sprachform). Demgegenüber plädiert der vorliegende Band für eine Verschränkung historischer und narrativer, rhetorischer und poetischer Betrachtungsweisen (→ 2.5.5c). Der jeweilige Textsinn eines Gleichnisses ist durch diachrone (historisch-sozialgeschichtliche, traditionsgeschichtliche, religionsgeschichtliche) und durch synchrone (kompositions- und redaktionskritische, textlinguistische, formkritische, textpragmatische) Methodenschritte zu erheben.
2.4.8 Reich Gottes vs. Vielfalt theologischer Inhalte
Ist das ‚Reich Gottes‘ bzw. die ‚Gottesherrschaft‘ das Passepartout der Gleichnisauslegung oder ist mit unterschiedlichen theologischen Bezugsgrößen zu rechnen? Die Gleichnisforschung nennt seit Jülicher stereotyp die basileía Gottes als ‚Sache‘ der Gleichnisse (zur Diskussion → 1.5.10). Da nur ein Teil der Gleichnisse die Gottesherrschaft explizit als Bezugsrahmen nennt und es sich bei der Rede von der basileía um eine Rahmenmetapher für Gottes Wirklichkeit handelt, erscheint es sachgemäß, nicht vom ‚Reich Gottes‘ als der einen ‚Sache‘, sondern von einem theologischen Bezugsrahmen zu sprechen, der unterschiedliche Aspekte der göttlichen Wirklichkeit enthält (→ 2.5.6).
2.4.9 Gleichnistypen vs. ‚alles Parabel‘
Die formkritische Einteilung der Gleichnisstoffe (→ 2.1.3) wurde schon früh mit Verweis auf zahlreiche Mischformen kritisiert (→ 2.2.1).1 In jüngster Zeit wird sie unter Verweis auf die antike Rhetorik und auf den biblischen Sprachgebrauch zurückgewiesen.2 Doch ist der Versuch, Gleichnistypen zu bestimmen, legitim, denn er entspringt dem Bedürfnis, das Phänomen Gleichnisse in seiner Differenziertheit zu erfassen.3 Zu fragen ist, ob es eine Alternative zur formkritischen Klassifikation gibt. Der vorliegende Ansatz versucht, von der Textpragmatik aus zu einer zumindest heuristisch tragfähigen Einteilung zu gelangen (→ 2.5.7).
2.4.10 Fazit: Der Erkenntnisgewinn aus hundert Jahren Gleichnisforschung
a) Bleibende Grundeinsichten Jülichers
Folgende Grundeinsichten Jülichers stehen nach wie vor in Geltung: Erstens, Gleichnisse sind nicht willkürlich, je nach theologischem Gusto, auszulegen; Allegorese verbietet sich im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend (Ausnahme: → 2.5.5d). Dem entspricht die methodische Fokussierung auf den Zielgedanken (Pointe). Dies verhindert Allegorese. Zweitens, Jülichers Problemhorizont gibt nach wie vor den Rahmen der Gleichnisforschung vor. Drittens, die hohe Wertschätzung der Gleichnisse als Urgestein der Jesuserinnerung ist bis heute ein wichtiger und weithin unwidersprochener Impuls der Frage nach den Gleichnissen.1
b) Leitende Alternativen und Scheinalternativen
Die Gleichnisforschung bewegt sich seit Jülicher