Gleichnisse. Kurt Erlemann
(Jülicher) oder auf die eschatologische Ansage der Gottesherrschaft (Dodd, Jeremias) ab, gilt jetzt die Gottesherrschaft im Sinne einer Gegenwirklichkeit bzw. einer neuen, von Jesus gestifteten Existenzmöglichkeit unter dem Vorzeichen der Liebe als Kern der Gleichnisbotschaft. Für Dan Otto Via kommt die Gleichnisverkündigung dem Angebot gleich, die eigene Situation in der Geschichte neu zu verstehen.1
g) Ästhetische Autonomie
Die existenziale Interpretation verweist auf zeitunabhängige, unmittelbar einsichtige Existenzialien wie Angst, Freude, Hoffnung, Liebe, Furcht vor dem Tod etc. Die Gleichnisbotschaft erscheint dadurch unabhängig von ihrem historischen Verstehenszusammenhang. Sinngebend sind, so die Vertreter einer ‚ästhetischen Autonomie‘ der Gleichnisse, das Ensemble der einzelnen Erzählelemente und die jeweiligen Rezipienten. Diese deuteten das Gleichnis als Kunstwerk, das jenseits der Autorintention, autonom sein Wirkungspotenzial entfaltet, mithilfe eines eigenen ‚hermeneutischen Entwurfs‘.1 Die ästhetische Autonomie der Texte verdanke sich vor allem ihrer Kürze und ihrer narrativen Geschlossenheit.2
Die Wirkung des Kunstwerks auf die Betrachter bestehe in einer durch Dramaturgie und Geschlossenheit ermöglichten, ästhetischen Erfahrung, die die Sicht auf den Alltag nachhaltig verändere. Transfersignale und überhaupt die Frage nach einer Deutungsebene spielen in diesem Ansatz keine Rolle. Die Deutung sei ausschließlich auf der Erzählebene selbst zu suchen und zu finden. Nicht die basileía Gottes sei der Bezugsrahmen, sondern eine unmöglich erscheinende Möglichkeit der Existenzführung.3 François Vouga definiert die Gleichnisse als
dramatische Geschichten mit einer oder mehreren Personen, charakterisiert durch die Klarheit ihrer Handlung, durch die Univozität ihrer Sprache und durch die Unabhängigkeit von jedem Kontext.4
Wolfgang Harnisch verbindet das Konzept mit Erkenntnissen der Theaterwissenschaften und der Fabeltheorie. Jülichers Postulat eines Gleichnis-Idealtyps wird aufgegriffen und modifiziert: Eine bestimmte Figurenkonstellation sowie eine Szenenfolge in drei Akten, mit dem erzählerischen Schwerpunkt auf dem dritten, dialogisch angelegten Akt der narratio sei typisch für die Gleichnisse im Munde Jesu. Dieses Arrangement verleihe ihnen eine einzigartige Sprachkraft: Die Adressaten würden wie in einem gelungenen Bühnenstück in den Handlungsverlauf verwickelt. Das führe zur Entdeckung einer überraschend möglich erscheinenden, befreienden Existenzweise, welche in einem metaphorischen Prozess mit der Gottesherrschaft verknüpft werde.5 Merkmale dieser neuen Existenzmöglichkeit seien unbedingte Liebe, unbegrenzte Freiheit und maßlose Hoffnung. In der performance des Gleichnisses werde die Möglichkeit verwirklicht (Sprachereignis). Das textpragmatische Ziel des Gleichnisses formuliert Harnisch so:
Der Hörer, dem Jesu Erzählung als eine ihn treffende Anrede widerfährt, soll sich im Akt der Rezeption zu einem Glauben ermutigen lassen, der das sprachlich Eröffnete als eine ihm extra se ipsum zukommende, verdankte und damit auf Gott verweisende Möglichkeit wahrnimmt, zu einem Glauben also, der die Sphäre des Möglichen mit der Gottesherrschaft identifiziert.6
Harnisch bindet seine Theorie an die mündliche Idealform der Gleichnisse, die noch frei von (zentrifugal wirkenden) Transfersignalen sei. In dieser Form begegneten die Rezipienten den Gleichnissen mit einer Unvoreingenommenheit, die den genannten ‚metaphorischen Prozess‘ allererst ermögliche. Die Verschriftlichung der Texte und die damit einhergehende Anreicherung mit nach außen ablenkenden Transfersignalen (Allegorisierung) wertet Harnisch als ‚Sprachverlust‘, in dem das Sprachereignis in ein rhetorisches Argument umgewandelt werde. Jülichers Missverständnis- bzw. Verfälschungstheorie lebt damit modifiziert weiter (weiter zum Gleichnis als Bühnenstück → 2.2.6e).
h) Bleibende Kontinuität mit Jülicher
Die Hochschätzung der Gleichnisform gilt exklusiv für die mündlichen Gleichnisse. Kontextualisierung, Verschriftlichung und Transfersignale machten die ursprüngliche Sprachkraft des Gleichnisses zunichte (‚Sprachverlust‘). So finden Jülichers anti-allegorischer Affekt und seine Verfäschungstheorie eine Fortsetzung.1
i) Fazit: Gleichnisse als Offenbarungsmedium und ‚Sprachereignis‘
Die ‚metaphorische Wende‘ führt zur Wiederentdeckung der po(i)etisch-ästhetischen Sprachkraft und der Unersetzbarkeit von Metapher und Gleichnis. Form und Inhalt, narratio und theologischer Bezugsrahmen bilden eine unauflösliche Einheit. Jesus als Gleichniserzähler etablierte eine unvergleichliche, dem Inhalt und dem Bilderverbot adäquate Form der Rede von Gott. Indem er die anbrechende Gottesherrschaft verkündigte, ließ er sie bei den Menschen Wirklichkeit werden. So gelten die Gleichnisse als Offenbarungsmedium sui generis und als einzigartiges, performatives Sprachereignis. Das in → 1.5.11 zitierte Diktum Jüngels bringt den Kern der ‚metaphorischen Wende‘ auf den Punkt. Inhaltlicher Kern der Gottesherrschaft ist demzufolge die Liebe als den Menschen neu geschenkte Existenzmöglichkeit (existenziale Interpretation). Die Suche nach einem Vergleichspunkt und einer Deutungsebene jenseits des Erzählten ist in diesem Ansatz obsolet.
2.2.4 Kritik an der ‚metaphorischen Wende‘
Die Gleichnisforschung seit den 1970er Jahren findet weiterhin in Auseinandersetzung mit Jülichers Ansatz und zusätzlich mit dem Konzept der ‚metaphorischen Wende‘ statt. Gegen Letztere wurden folgende drei Punkte kritisch eingebracht1:
Erstens, eine Gleichsetzung der Metapher als Satzphänomen der Lyrik und des Gleichnisses als narratio sei nicht zulässig:
Wird das Metaphernphänomen der Lyrik auf Gleichnisse übertragen, muss dies fast notwendig zu Verkürzungen im Gleichnisverständnis führen, da hier gleich zwei Grenzen überspielt werden: die Grenze vom Satz zur Erzählung und diejenige von der Gattung Gedicht zur Gattung Gleichnis.2
Ein wichtiger Unterschied zwischen Metapher und Gleichnis bestehe darin, dass die Metapher lediglich Analogien, ein Gleichnis aber auch Differenzen zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen sichtbar machen könne.3 Diese Beobachtungen sprechen gegen die Definition des Gleichnisses als einer ‚erweiterten Metapher‘. Ein Gleichnis sei vielmehr eine fiktionale Erzählung, die einzelne Merkmale mit der Metapher gemeinsam hat (Konterdetermination, bleibender Sinnüberschuss, mehrere mögliche Vergleichspunkte und Deutungsbedarf).
Zweitens, das Gesagte gilt auch für die Rede von der po(i)etischen Sprachkraft der Metapher: Die Ansicht, Metapher und Gleichnis hätten eine besondere Sprachkraft und ein Gleichnis sei ein performatives Sprachereignis, wird als unangemessen und apologetisch gewertet.
It would be difficult to document cases of people who in reading a parable or having it read to them experienced in that moment their lives being ‚torn apart‘.4
Die Sprachkraft von Metapher und Gleichnis beschränke sich auf ihre Fähigkeit, bereits vorhandene Analogien sichtbar zu machen.5 Von einem ‚Sprachverlust‘ bei der Verschriftlichung der Gleichnisse zu sprechen (Harnisch 1985), sei daher unsachgemäß, auch weil die Annahme eines kontextfreien, mündlich vorgetragenen Gleichnisses eine Fiktion ist – im Gegenteil: Auch für die Gleichnisse im Munde Jesu seien Kontextmarker ([Vor-]Wissen der Hörerschaft um Jesu Vollmacht, Jesu Taten als situativer Kontext der Gleichnisse u. a.) vorauszusetzen, die das Verstehen der Gleichnisrede vorprägen. Die Gleichnisse seien von Jesus nicht in einem luftleeren Raum, sondern im Kontext seines sonstigen Wirkens gesprochen worden. Absolute Unvoreingenommenheit der Hörerschaft als Voraussetzung dafür, dass das mündlich vorgetragene Gleichnis eine performativ-po(i)etische Wirkung entfalten könne, sei Fiktion.6 Diese Erkenntnis führt in der Folge zur Fokussierung auf die schriftliche Endgestalt der Texte und ihres Kontextes.7
Drittens, die Fokussierung der Metapherntheorie auf poetische Anteile wird als Engführung eingestuft, vergleichbar der rhetorisch-argumentativen Engführung bei Jülicher. Schon Quintilian ordne Metaphern und Gleichnisse dem rhetorischen und dem poetischen Bereich zu.8 Metaphern eigneten sich demnach sowohl zur sachlichen Beschreibung von Sachverhalten als auch zur emotionalen Steuerung der Hörerschaft. Gemeinsam mit der Beobachtung des grundsätzlichen