Gleichnisse. Kurt Erlemann
gefasst und bezeichnet prinzipiell jeden vergleichenden Text, der mit deutungsbedürftigen Elementen arbeitet. Allein die Beobachtung solcher Elemente rechtfertigt aber nicht, von einer Textgattung Allegorie zu sprechen (→ 1.4.3). In Konsequenz der Beobachtungen Klaucks wird der Gattungsbegriff Allegorie in Theologie und Literaturwissenschaft seither auf Texte mit hermetischer Tendenz (Codierung, Chiffrierung), erzählerischer Inkonzinnität und Surrealistik eingegrenzt (→ 2.5.2a).
2.2.6 Neuere Trends
Seit der ‚metaphorischen Wende‘ fokussiert die Gleichnisforschung bis dato vernachlässigte Aspekte, so den didaktischen, kommunikationstheoretischen, redaktionskritischen, rezeptionsästhetischen und religionsgeschichtlichen Aspekt.1
a) Der didaktische Aspekt
Die Wiederentdeckung der Gleichnisform wird von Ingo Baldermann (*1929) und anderen Gleichnisauslegern didaktisch fruchtbar gemacht.1 Dem Gleichnis als Offenbarungsmedium entspreche didaktisch die Methode der Nacherzählung. Ziel dieses Umgangs sei es, die Erzählung aus der Perspektive des Autors zu lesen und zu verstehen. Das Gleichnis hat, so Baldermann,
die Kraft der erzählenden Sprache für sich: Jede Erzählung bringt den Hörer dazu, daß er die Dinge mit den Augen des Erzählers liest.2
Die methodische Konsequenz lautet: Rekonstruktion der Entstehungssituation der Gleichnisse. Gelingt die Nacherzählung, so Baldermann, können die Adressaten zum Glauben finden und eine neue Existenzmöglichkeit ergreifen; damit hätte das Gleichnis seinen Zweck erfüllt. Der Ansatz verknüpft das rhetorisch-argumentative Gleichnisverständnis mit der hermeneutischen Hochschätzung der narrativen, mündlich vorgetragenen Gleichnisrede und mit ihrer existenzialen Interpretation.3 – Ein Neuerzählen des Gleichnisses ist für Erhardt Güttgemanns (1935-2008) der methodische Ansatz, um den Gleichnissen in veränderten hermeneutischen Situationen ihre ursprüngliche Wirkung zurückzugeben. Hierfür entwickelt er die Auffassung vom Gleichnis als ‚generativer Poetik‘ – einer Poetik, die das, worum es geht, allererst hervorbringt. Güttgemanns betont die Verschränkung von Form und Inhalt sowie die didaktische Zweckbestimmung der Gleichnisse.4
b) Der kommunikationstheoretische Aspekt
Der von Edmund Arens (*1953) und Eckhard Rau (1938-2011) vertretene Ansatz versteht das Gleichnis als Teil eines historischen Kommunikationsgeschehens.1 Gleichnisse sind
kommunikative Handlungen eines Sprechers in Bezug auf seine Hörer angesichts einer zur Diskussion stehenden Sache.2
Die kommunikative Handlung mit all ihren rhetorischen Techniken sorge für eine Veranschaulichung des Inhalts und dafür, die Herzen der Adressaten zu bewegen.3 Der Zweck der Gleichnisbotschaft sei nicht kognitiver (Information über Gott und sein Handeln), sondern emotiv-praktischer Art (Verhaltensänderung): „Gleichnisse wollen in die ‚Sache‘ der Praxis des Lebens übersetzt werden.“4
Methodisch entspricht dem Ansatz die Rekonstruktion der ursprünglichen Verstehensbedingungen und Assoziationsmöglichkeiten mittels einer Kombination von Realienkunde, Traditionsgeschichte, Religionsgeschichtlichem Vergleich und Redaktionskritik. – Gegen die in der ‚metaphorischen Wende‘ und im französischen Strukturalismus entwickelte Auffassung einer ‚ästhetischen Autonomie‘ der Gleichnisse (→ 2.2.6g) gilt der literarische Kontext als Verstehensschlüssel.
c) Der redaktionskritische Aspekt
Voraussetzung für eine redaktionskritische Betrachtung ist die Absage an das Postulat eines Gleichnis-Idealtyps und an die damit verbundene Missverständnis- und Verfälschungstheorie Jülichers. Wie im kommunikationstheoretischen Ansatz gilt auch hier der (literarische) Kontext als Verstehensschlüssel. Gleichnisse sind, so Gerhard Sellin (1943-2017), Kommentare zum kontextuell geschilderten Verhalten Jesu.1 Es bestehe eine intensive Wechselwirkung zwischen Wirken und Reden Jesu. Der theologische Bezugsrahmen der Gleichnisse ist, so Sellin, im literarischen Kontext abgebildet: die Gottesherrschaft, die in Jesu Handeln konkret wird.2
d) Der rezeptionsästhetische Aspekt
In Zuspitzung des kommunikationstheoretischen Ansatzes fragt Dieter Massa (*1966) nach dem Einfluss der Leserschaft auf die Textgestaltung bzw. nach dem Verhältnis von Textproduktion und -rezeption.1 Leitend ist dabei das Bild vom Autor, der das Gleichnis so konzipiere, dass es von der intendierten Leserschaft möglichst optimal verstanden werden kann. Um dies zu gewährleisten, sei nicht nur jedes gleichnisinterne Element sorgfältig formuliert, sondern auch die Implementierung in den literarischen Kontext ein bewusster Akt der Leserlenkung.2
Im Fokus stehen insbesondere die Transfersignale des Textes (→ 1.5.9; 2.2.5b; 2.5.2a). Auch im Blick sind traditionsgeschichtliche Prätexte, Traditionen und Motive, die in den Text einfließen und das Verstehen der Adressaten in eine bestimmte Richtung lenken. Damit werde ein Interpretationsrahmen umrissen, innerhalb dessen die Adressaten den Text deuten könnten; eine eindeutige Festlegung des Textsinns unterbleibe jedoch, was der Polyvalenz der Metaphorik, dem überschießenden Sinnpotenzial des Textes und der individuellen Aneignung durch die Leserinnen und Leser entspricht. Die Frage der Autorintention verliert bei diesem Ansatz an Relevanz; wichtiger ist das (jeweilige) Textverständnis der Adressaten. Der theologische Bezugsrahmen ergebe sich aus dem kreativen Leseakt. Der Bezugsrahmen sei nicht einseitig im Sinne einer ‚zeitlosen, religiösen Satzwahrheit‘ oder einer ‚neuen Existenzmöglichkeit‘ zu verstehen; kritisiert wird auch die Annahme einer ‚ästhetischen Autonomie‘ der Gleichnisse (→ 2.2.6g).
Der Ansatz bewegt sich zwischen einer Fixierung des theologischen Bezugsrahmens im Sinne Jülichers und der existenzialen Interpretation einerseits sowie einer völligen Öffnung des Textsinns im Sinne des Strukturalismus andererseits.
e) Der psychologische Aspekt
Iver K. Madsens psycholinguistischer Ansatz fragt nach den Assoziationen des Autors beim Verfassen eines Gleichnisses.1 Ähnlich fragt Martin Leiner (*1960) textpsychologisch nach dem Produktionsprozess und seinen unbewussten, emotionalen und kognitiven Faktoren.2 Die Emotionalität der Texte sei ausschlaggebend, um die intendierte Einstellungsveränderung zu erreichen. – Tim Schramm (*1940) legt mit dem bibliodramatischen Zugang einen eigenständigen psychologischen Ansatz vor. Dabei wird die Erzählebene ausgelotet und mit persönlicher Erfahrung des Auslegers angereichert.3 Einfühlung in den Text, freie Assoziation und historisch-kritische Arbeit ergänzten sich gegenseitig. Mithilfe textpragmatischer Techniken wie ‚antithetischer Zwilling‘ und offenen Erzählschlüssen führten die Gleichnisse unterschiedliche Handlungsmuster vor Augen und provozierten suggestiv Stellungnahme bzw. Parteinahme. Als kleine bibliodramatische Bühnenstücke kämen die Gleichnisse erst dann zu ihrem Ziel, wenn sie ‚ins Leben gezogen‘ bzw. immer wieder neu inszeniert werden.4 – Schramm zufolge führt das Bibliodrama auch zu einer neuen Einschätzung der Allegorese:
Im Bibliodrama – das ist meine Erfahrung – tut sich nicht selten ein (auch) allegorisches Verstehen der Texte auf; die Allegorese kehrt zurück im mimetischen Spiel, vorwissenschaftlich-spontan und ungeniert. Das ist kein Wunder, denn wer die Bilder ernst nimmt, sich von Symbolen berühren läßt und der Einladung zur Identifikation folgt, der überschreitet schnell den Buchstaben-Sinn; er findet Tiefenschichten in ‚seinem‘ Text, die sich oft als so evident erweisen, daß die strikte Abwehr einer allegorischen Auslegung durch die historisch-kritische Exegese als unangemessen erscheint.5
Ein Beispiel für die Nähe von Bibliodrama und Allegorese ist das in den Gleichnissen Lk 15,3-32 zu entdeckende ‚trinitarische Triptychon‘, das den Hirten auf Jesus Christus, die Frau auf den Heiligen Geist und den Vater auf Gott hin deutet.6
f) Der religionsgeschichtliche Aspekt
David Flusser (1917-2000), Klaus Berger (1940-2020) und Peter Dschulnigg (1943-2011) verorten den Interpretationsrahmen der Texte im frühjüdischen und hellenistischen Umfeld.1 Der Blick auf außerbiblische Gleichnisse lässt