Gleichnisse. Kurt Erlemann
durch Interpretation zwar nicht substituieren, aber im Sinne der Autorintention interpretieren. Wesentlich für den Interpretationsrahmen seien der literarische Kontext und der Verstehenskontext der Erstadressaten; deren theologische und zeitgeschichtliche Assoziationen beim Hören von Metaphern und Gleichnissen seien zu rekonstruieren. – Die Rückbesinnung auf die argumentativ-rhetorische Funktion von Gleichnis und Metapher führt im weiteren Verlauf zu einer verstärkt redaktionskritischen bzw. kommunikationstheoretischen Betrachtungsweise.9
2.2.5 Revision des Allegorie-Begriffs
Jülichers anti-allegorischer Affekt geriet in der Folgezeit zunehmend in die Kritik. Die Beobachtung von Mischformen (Gleichnisse mit allegorischen Anteilen) und die Neubewertung der Metapher (→ 2.2.3) schlagen sich in einer Neubestimmung der Allegorie und im Verzicht auf ihre Kontrastierung mit Gleichnissen nieder.
a) Beobachtung von Mischformen
Es gibt keine scharfe Grenze zwischen eindeutigen und deutungsbedürftigen Texten. Jedes Gleichnis hat klar verständliche und deutungsbedürftige Elemente. Deutungsbedürftige Elemente sind z. B. andeutende und verschleiernde Transfersignale. Sie durchbrechen die Realistik und die Konterdetermination der narratio und weisen auf eine theologische Deutungsebene hin (→ 1.5.9).1
Beispiel: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) gilt als Mustergleichnis Jesu. Seine Botschaft der unbedingten Liebe des Vaters zu seinen Söhnen leuchtet unmittelbar ein. Gleichwohl enthält es deutungsbedürftige Elemente: Was besagt der Hinweis auf die Schweine, die der jüngere Sohn zu hüten hat? Was bedeutet der Ring, den der Vater dem Heimgekehrten ansteckt? Was meint die Rede von ‚tot‘ und ‚lebendig‘ (V.24.32)? Ausgehend von der Kohärenz und Integrität des Gleichnisses, müsste man es, Jülichers Logik folgend, Jesus gänzlich absprechen oder aber die besagten Elemente der nachträglichen, verfälschenden Interpretation durch Lukas zuordnen.
Jülichers Entgegensetzung zwischen eindeutigen Gleichnissen und uneindeutigen Allegorien sowie sein Postulat eines idealtypischen, eindeutigen Gleichnisses wirken konstruiert.2
Wirkliche Gleichnisse bewegen sich gerne im Raum zwischen diesen beiden Extremen.3
Das Statement von Peter Dschulnigg bringt das Problem auf den Punkt.4
b) Präzisierung der Begrifflichkeit
Hans-Josef Klauck (1978) brachte eine nachhaltige Begriffsdifferenzierung in die Diskussion ein. Er unterscheidet zwischen Allegorie, Allegorese und Allegorisierung. Das Kernanliegen Jülichers erscheint in der Folge als Affekt gegen die Allegorese als Auslegungsmethode. Die nachträgliche allegorische Anreicherung bzw. Allegorisierung von Gleichnissen ist laut Klauck ein positiv zu bewertender Aktualisierungsprozess. Außerdem hinterfragt Klauck die formkritische Definition von Allegorie als literarischer Gattung kritisch (→ 1.4.3; 2.1.3g; 2.5.2a).
1. Allegorese
Die Allegorese ist ein antikes, bis in die Neuzeit verbreitetes Auslegungsverfahren, das zwischen dem wörtlichen Sinn eines Textes und einem weiteren, tieferen bzw. allegorischen Sinn unterscheidet. Diese Unterscheidung ermöglicht es, auch schwer verständlichen Bibeltexten einen (aktuellen) Sinn abzugewinnen. Texte gelten dabei generell als mehrschichtig und damit als bewusste Herausforderung, den eigentlichen Sinn, die geistliche Tiefendimension, zu entdecken. In diesem Sinne betrieb bereits Philo von Alexandrien (ca. 15 v. – ca. 50 n. Chr.) systematisch Allegorese. Auf diese Weise erschloss er philosophisch gebildeten Nichtjuden in Alexandria den (philosophischen) Sinn biblischer Texte.
Beispiel: Entgegen dem ursprünglichen Textsinn von Gen 16-21 deutet Paulus in der Allegorese Gal 4,21-31die beiden Erzmütter Sara und Hagar auf den neuen bzw. den alten Bund. Allein die soziale Konstellation der beiden Frauen genügt Paulus, sein Thema hierin abgebildet zu sehen. Die bekannte, anschauliche Erzmüttergeschichte ist für den Apostel ein geeignetes Medium, um die eher unanschauliche Rede vom alten und neuen Bund begreiflich zu machen.
Das Beispiel zeigt, dass Allegorese argumentativen Zwecken und zugleich der Aktualisierung des Erzmüttertexts dient. Von der Alten Kirche bis in die Neuzeit wurde die Allegorese weiter verfeinert (Unterscheidung mehrerer Schriftsinne bei Origenes, Augustin u. a.). Das Verfahren wird pneumatologisch legitimiert: Der Autor aller Bibeltexte sei der Heilige Geist, der sie wie einen Teppich zusammengewoben habe. So seien alle Texte miteinander unsichtbar verknüpft; diese Verknüpfungen gelte es offenzulegen – eine frühe Form von Intertextualität!1
Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung wurde die Allegorese mehr und mehr in Frage gestellt. Nicht eine unhistorische, geistliche Tiefendimension stand nunmehr im Fokus der Exegese, sondern der vom Textautor intendierte, historische Textsinn. Bezugspunkt ist dabei die Semantik des Textes.
Beispiel: Das ‚Kalb‘ im Gleichnis vom verlorenen Sohn könnte, allegorisch gedeutet, auf den gekreuzigten Christus hinweisen, der für die Vergebung der Sünden ‚geschlachtet‘ wird. Eine solche Deutung wird jedoch der ursprünglichen Intention des Lukas nicht gerecht: Erstens, das ‚Kalb‘ ist ein dekorativer Nebenzug des Gleichnisses, der nicht nach Auslegung ruft; zweitens, ‚Kalb‘ als christologische Metapher ist weder bei Lukas noch sonst irgendwo im Neuen Testament zu finden (im Gegensatz zu ‚Lamm‘).
Für die historisch-kritische Methode verbietet sich Allegorese; das ist bis heute common sense der wissenschaftlichen Textauslegung, zumindest in der westlichen, vor allem durch den Protestantismus geprägten, Auslegungstradition. Der vorliegende Entwurf plädiert für eine Enttabuisierung der Allegorese (→ 2.5.5d).
2. Allegorisierung
Jülicher verstand unter Allegorisierung die nachträgliche, verfälschende Überlagerung ursprünglich allegoriefreier Texte mit ‚allegorischen‘ Elementen wie z. B. Metaphern, zeitgeschichtlichen Anspielungen etc. – Elemente, die auf eine tiefere Sinnebene hinweisen und zugleich deutungsbedürftig sind.1
Beispiele: 1) Die allegorisierende Anreicherung des Gleichnisses von der königlichen Hochzeit Mt 22,1-14 durch V.7: Die Belagerung einer Stadt mit anschließender Zerstörung durch Feuer passt in keiner Weise zur kontextuellen Handlung der Vorbereitung einer Hochzeitsfeier. Somit sprengt V.7 die Erzählebene und ruft nach Auslegung. Es handelt sich hier wahrscheinlich um einen Reflex auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. Für diese Annahme spricht nicht nur die Geschichtstheologie des Matthäus (die Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Ablehnung Jesu), sondern auch der synoptische Vergleich: Das Element fehlt in der lukanischen Parallele Lk 14,15-24. – 2) Zum Winzergleichnis Mk 12,1-12parr. vgl. → 1.3, These 8.
Die Allegorisierung ist ein Mittel, um schon ursprünglich deutungsbedürftige und teilweise unverständlich gewordene Texte in einer neuen historischen Situation zu aktualisieren und ihren ursprünglichen Sinn mit historischer Erfahrung zu verbinden. Allegorisierung ist, gegen Jülicher, positiv zu bewerten – als wichtiges und probates Mittel, Texte über ihre Ursprungssituation hinaus zu tradieren.
In Umkehrung der Auffassung Jülichers wird folgende These gewagt: Die Evangelisten haben nicht ursprünglich klare Gleichnisse Jesu missverstanden. Sie haben sie nicht unnötig allegorisiert oder gar vorsätzlich verfälscht, sondern sie haben die oft als rätselhaft empfundenen Gleichnisse Jesu durch Zufügung andeutender und klärender Elemente einem weiteren Adressatenkreis zugänglich gemacht und aktualisiert.2
3. ‚Allegorische‘ Elemente
Bausteine in Gleichnissen, die auf eine externe Deutungsebene hinweisen, werden unter dem Sammelbegriff ‚allegorische‘ Elemente, besser: Transfersignale zusammengefasst (→ 1.5.9; 2.5.1c; 2.5.2a). Klärende, andeutende und den tieferen Sinn verschleiernde Transfersignale stehen in einer ausgefeilten Balance nebeneinander (→ 2.5.2a). Sie sind auch für die mündlichen Gleichnisse Jesu vorauszusetzen und kein Zeichen späterer Verfälschung.1
4.