Gleichnisse. Kurt Erlemann
Konterdetermination
Der Begriff bedeutet wörtlich Gegen-Bestimmtheit. Gemeint ist die Beobachtung, dass Gleichnisse bis auf wenige Ausnahmen das, worum es eigentlich geht, auf der Erzählebene verschweigen. Bei Metaphern und Vergleichen werden einzelne Begriffe gegen ihren erwartbaren, ‚normalen‘ Gebrauch in einen neuen, ihnen eigentlich fremden Kontext gestellt. Das sorgt für Irritation und Überraschung (metaphorischer Prozess → 2.2.3c). Die Konterdetermination wird in Gleichnissen, anders als in Allegorien, durch Transfersignale durchbrochen, die das Erzählte für die Deutungsebene transparent machen (→ 1.5.9).
Definition: Konterdetermination meint die rhetorische Technik, das, worum es im Erzählten eigentlich geht, zu verschweigen, um nicht vom Erzählten abzulenken.
1.5.8 Extravaganz
Extravaganzen sind Erzählzüge, welche die Realistik des Erzählten und damit den Erwartungshorizont der Rezipienten durchbrechen. Welche Erzählzüge für die ursprünglichen Rezipienten extravagant erschienen, ist durch Klärung der so genannten Realien und des sozialgeschichtlichen Hintergrunds zu recherchieren.1 Als Transfersignale weisen Extravaganzen darauf hin, dass das Erzählte nicht wörtlich zu verstehen ist. Sie sind Hinweisschilder auf die Punkte, wo der Vergleich ‚hinkt‘; so gleicht Gott eben doch nicht zu hundert Prozent einem irdischen König, sondern unterscheidet sich in markanten Punkten von ihm.
Damit ist eine Eigenart der Gleichnisse angedeutet, die sie für die Rede von Gott geradezu prädestiniert: Sie bringen Gott nicht nur nah, indem sie ihn mit irdischen Rollenträgern vergleichbar erscheinen lassen, sondern bringen zugleich das bleibende Anderssein Gottes zum Ausdruck. Das legitimiert vergleichende Rede von Gott, trotz des alttestamentlichen Bilderverbots.
Definition: Extravagant sind Erzählzüge, die den Rahmen des realistisch Erwartbaren sprengen, für Aha-Effekte sorgen, den vergleichenden Charakter des Textes markieren und auf Differenzen zwischen Erzähl- und Deutungsebene hinweisen.
1.5.9 Transfersignale
Transfersignale (auch: Verweiselemente) sind alle Erzählzüge, die darauf aufmerksam machen, dass sich die Bedeutung des Erzählten nicht auf der semantischen, wörtlichen Ebene erschöpft, sondern einen dahinter liegenden, theologischen Bezugsrahmen umfasst, der durch das Erzählte illustriert und plausibel gemacht werden soll. Damit durchbrechen sie die Konterdetermination der Erzählebene und provozieren Deutung. Transfersignale können die Deutungsebene klären (Übergangsebene, Schluss-Sentenz, Anwendung, geprägte Bildfelder), sie lediglich andeuten (Extravaganzen, geprägte, aber deutungsoffene Metaphern und Bildfelder, zeitgeschichtliche Anspielungen) oder sie sogar verschleiern (kühne Metaphern, Chiffren, surreale Züge). Weiter dazu → 2.5.1c.
Definition: Alle Erzählzüge, die bei den Textrezipienten einen ‚metaphorischen Prozess‘ auslösen, anders gesagt: nach einer externen Deutungsebene fragen lassen, nennt man Transfersignale. Sie können das eigentlich Gemeinte klären, andeuten oder verschleiern. Ein guter Mix aus allem ist für Gleichnisse konstitutiv.
1.5.10 Theologischer Bezugsrahmen (‚Sache‘)
Bild und ‚Sache‘ sind in der älteren Gleichnisforschung die beiden ‚Hälften‘ bzw. Ebenen eines Gleichnisses. Das Gleichnisbild veranschaulicht demzufolge eine bestimmte, dem menschlichen Erfahrungshorizont grundsätzlich entzogene, theologische ‚Sache‘. Dieser Begriff ist irreführend und wird hier konsequent vermieden. Er suggeriert eine klar umrissene Bezugsgröße der Gleichnisse. Diese wurde und wird in der Regel mit der Gottesherrschaft (basileía tou theoú bzw. basileía tṓn ouranṓn) identifiziert. Problematisch ist daran zum einen, dass ‚Reich Gottes‘ selbst eine Metapher, wenn auch eine usuelle Metapher, ist: Sie bringt die Wirklichkeit Gottes mit der Wirklichkeit eines weltlichen Königreichs zusammen. Daher ist es so eine Sache mit dem Reich Gottes als ‚Sache‘. ‚Reich Gottes‘ wird überhaupt nur in einigen Gleichnistexten als explizite Rahmenmetapher verwendet.1
Zum anderen ist ‚Reich Gottes‘ nur zum Teil ausdrücklich die Bezugsgröße; viele Texte nennen ihre Bezugsgröße nicht ausdrücklich, sprechen auch nicht von einem basileús als kýrios-Figur und verweisen stattdessen auf andere Bezugsgrößen, wie etwa die Freude im Himmel (Gleichnistrilogie Lk 15). Dementsprechend vermuten einige Forscher die ‚Sache‘ im situativen oder literarischen Kontext der Gleichnisse.2 Andere sehen in den Gleichnissen überhaupt keine ‚Sache‘, sondern die Inszenierung einer von Jesus gestifteten, neuen Existenzform: der Liebe.3
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die so genannte ‚Sache‘, besser: der theologische Bezugsrahmen als aspektreiches Bündel (vor-)religiöser Erfahrungen und theologischer Erkenntnisse.4 Diese haben alle etwas mit der im Gleichnis angezeigten Wirklichkeit Gottes zu tun. Die Alltagswirklichkeit erscheint, unter dem Vorzeichen der Wirklichkeit Gottes, in einem neuem Licht. Das, worum es geht, ist ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Wirklichkeit (vgl. → 2.5.6).
Definition: Das eigentlich Gemeinte eines vergleichenden Textes ist innerhalb eines theologischen Bezugsrahmens zu verorten und umfasst ein aspektreich-komplexes Bündel (vor-)religiöser Erfahrungen und theologischer Erkenntnisse.
1.5.11 Sprachgeschehen bzw. Sprachereignis
Die Rede vom Gleichnis als Sprachereignis (auch: Sprachgeschehen) geht auf die Zeit der ‚metaphorischen Wende‘ ab Mitte des 20. Jahrhunderts zurück, in welcher der po(i)etische Charakter der Metapher neu entdeckt wurde (→ 2.2.3). Als ‚erweiterte Metapher‘ (→ 2.2.3c) wurde dem Gleichnis die Sprachkraft zuerkannt, die Wirklichkeit Gottes nicht nur zu illustrieren, sondern sie sogar zu realisieren. Auf den Punkt bringt diese Auffassung Eberhard Jüngel:
Die basileia [Gottesherrschaft] kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache. Die Gleichnisse Jesu bringen die Gottesherrschaft als Gleichnis zur Sprache.1
Eine andere Wirklichkeit der basileía als im sprachlichen Vollzug, indem das Gleichnis ausgesprochen wird und es in den Rezipienten wirkt, gibt es nach dieser Auffassung nicht. Das Erzählen von Gleichnissen ist gleichsam ein performativer Akt, der das, wovon er redet, Realität werden lässt.2 Diese besondere Sprachkraft des Gleichnisses macht es zu einer Offenbarungsrede sui generis. – Es ist zu diskutieren, ob Gleichnisse tatsächlich himmlische Fakten schaffen können und es diese jenseits davon gar nicht gibt (→ 2.2.3d; 2.4.3; 2.4.5; 2.5.3b; 2.5.4d).
Definition: Der Begriff Sprachereignis / Sprachgeschehen zielt auf Sprache als performativen Akt ab, der etwas Wirklichkeit werden lässt, indem er es ausspricht.
1.5.12 ‚Eigentliche‘ vs. ‚uneigentliche‘ Rede
Dieses Gegensatzpaar begegnet häufig in der Gleichnisforschung. Jülicher greift damit eine Kategorie der antiken Rhetorik auf, die ihm hilft, Gleichnis/Vergleich mit Allegorie/Metapher zu kontrastieren.1 Die Rhetorik differenziert zwischen einer Redeweise im Sinne von unmissverständlichem ‚Klartext‘, der Deutung weder braucht noch zulässt (‚eigentliche‘ Rede), und einer Redeweise, die nicht sagt, was sie meint, und deutungsbedürftig ist (‚uneigentliche‘ Rede). Die qualitative Bewertung der Redeweisen hängt am Sprachbegriff: Wird Sprache primär als Informationsmedium verstanden, wird ‚eigentliche‘ Rede höher bewertet (rhetorische Optik). Wird Sprache jedoch primär als Form (po[i]etischer) Wirklichkeitserschließung verstanden, wird ‚uneigentliche‘ Rede hochgeschätzt (poetische Optik). Die ‚metaphorische Wende‘ (→ 2.2.3) war in dieser Hinsicht ein Paradigmenwechsel. Die Metapher gilt seither als Grundbaustein sprachlicher Erschließung von Welt; das lässt die pejorative Bezeichnung ‚uneigentlich‘ deplatziert erscheinen. Dennoch bestimmt das Gegensatzpaar bis heute die Diskussion um vergleichende Texte sowie die Unterscheidung von Vergleich und Metapher.2 Dementsprechend wird der semantische Unterschied zwischen Vergleich und Metapher vielerorts noch heute an der Vergleichspartikel wie festgemacht.