Gleichnisse. Kurt Erlemann

Gleichnisse - Kurt Erlemann


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‚Weinberg‘ meint in Mt 20,1-16 eher die Welt insgesamt, in Mk 12,1-12 ein besonderes Erwählungsprivileg. Selbst in ein und demselben Text kann ‚Weinberg‘ Unterschiedliches bedeuten; in Mt 20,1-16 lässt sich in ihm, je nach Deutungsrahmen, die Welt, die Gemeinde oder Israel als Missionsgebiet früher Christen sehen. – Ein weiteres Beispiel findet sich unter → 3.3.1.

      Für wen der Hausherr, König oder Sämann in neutestamentlichen Gleichnissen steht, ist längst nicht eindeutig.1 Die vom Autor intendierte Bedeutung der Metapher ergibt sich in der Regel durch den Ko- oder Kontext. Hinzu kommen der Verstehens- und Erwartungshorizont der Hörer- bzw. Leserschaft. Mit veränderten Verstehensbedingungen und Leserschaften ändert sich oft die Bedeutung. Metaphern haben im Unterschied zu Vergleichen einen bleibenden Sinnüberschuss, der sie für die Rezeption reizvoll (aber auch schwierig) macht (→ 3.3).

      5. Zur Sprachkraft der Metapher

      Die Frage der Sprachkraft der Metapher wird kontrovers diskutiert. Können Metaphern lediglich eine neue Sicht auf die (ansonsten unveränderte) Wirklichkeit vermitteln1 oder auch Wirklichkeit konstituieren?2 Hintergrund der Debatte ist die dogmatisch-theologische Frage nach der Qualität die Gleichnisrede Jesu: Ist sie lediglich ein Augenöffner, ein Appell an die Herzen oder ist sie Offenbarungsrede im Sinne eines Sprachereignisses, in dem Gottes Reich nicht nur zur Sprache kommt, sondern zugleich Wirklichkeit wird (→ 1.5.11; 2.2.3a; 2.5.4d)?

      6. Abgrenzung

      Wie der Vergleich kennt die Metapher keine Dramaturgie, erzählende Elemente fehlen. Der Unterschied zum Vergleich liegt nicht in der fehlenden Vergleichskopula, sondern darin, dass das tertium comparationis unterdrückt wird.1 Im Gegensatz zum Gleichnis weist die metaphorische Mahnrede einen direkten Hörerbezug (Verwendung der 2. und 3. Person) auf; Elemente einer narratio mit ausgeprägter Dramaturgie fehlen. Im Unterschied zur Chiffre wird der Bildempfänger genannt.

      Definition: Die Metapher verknüpft bildhaft zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche miteinander und ermöglicht so die Erschließung von Unbekanntem durch Bekanntes. Da der Vergleichspunkt unterdrückt wird, ist die Metapher deutungsbedürftig und polyvalent und hat dadurch einen bleibenden Sinnüberschuss.

      c) Gnome, Sentenz, Sprichwort

      Die drei Begriffe bezeichnen kurze, allgemeiner Weisheit entstammende Lebensregeln. In kurzer, prägnanter und autoritativ erscheinender Formulierung bringen sie Lebensweisheit auf den Punkt. Eine Gnome muss, anders als Sentenz und Sprichwort, kein vollständiger Satz sein. Die Übergänge zwischen den Formen sind freilich fließend; eine eine exakte Abgrenzung der Begriffe ist nicht möglich.

      Beispiele für Gnome: ‚Der Starke ist am mächtigsten allein‘ (aus Schillers Wilhem Tell); ‚alles in Maßen‘ bzw. ‚von nichts zu viel‘ (gr. mēdén ágan, Solon von Athen). – Beispiele für Sentenzen: ‚Die Ersten werden die Letzten und die Letzten die Ersten sein‘ (Mt 19,30; 20,16 u. a.); ‚viele sind berufen, wenige aber auserwählt‘ (Mt 22,14); ‚wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden‘ (Lk 14,11). – Beispiele für Sprichwörter: ‚Lügen haben kurze Beine‘; ‚pünktlich wie ein Maurer‘; ‚Hochmut kommt vor dem Fall‘ (Prov 16,18).

      Definition: Gnome, Sentenz und Sprichwort bieten Lebensweisheit in prägnanter, konzentrierter Form und bringen so komplexe Zusammenhänge auf den Punkt.

      d) Exemplum und exemplarische Mahnung

      Etymologisch bedeutet exemplum etwas, das aus einer Menge herausgegriffen ist, ein ‚Muster‘ (von lat. eximere). Dieses Muster steht exemplarisch für ein bestimmtes Genus.1 Das Exemplum ist ein kurzer Text, der ein treffendes Beispiel aus Natur oder Geschichte für das, was gemeint ist, bietet.2 Die dahinter stehende story wird nur angedeutet. Der römische Rhetoriker Quintilian definiert das Exemplum als die „Erwähnung eines zur Überzeugung von dem, worauf es dir ankommt, nützlichen, wirklichen oder angeblich wirklichen Vorgangs“.3 Der im Exemplum geschilderte Vorgang, das beschriebene Verhalten seiner Akteure, ist im positiven oder negativen Sinne vorbildlich, an ihm sollen die Rezipienten lernen.

      Beispiele: Davids Zugriff auf die heiligen Schaubrote in Mk 2,25f.; das Exemplum legitimiert das Ährenraufen am Sabbat. – Hebr 11 bietet eine ganze Reihe an Exempla für den geforderten Glauben. Deutlich wird in beiden Fällen die argumentative Funktion der Textform.

      Semantisch gemeinsam ist den Exempla, dass sie weder szenische Gliederung noch erzählerische Geschlossenheit aufweisen. Manche Exempla sind imperativisch formuliert und heißen dann exemplarische Mahnrede.4 Worin das Vorbildliche oder Abschreckende im Exemplum besteht, wird ausdrücklich genannt.

      Beispiele für exemplarische Mahnrede: Mt 5,39f. (Wange und Meile), Mk 9,41 (Becher Wasser), Lk 12,58f. (Versöhnungsbereitschaft).

      Definition: Das Exemplum bietet einen Präzedenzfall aus Natur oder Geschichte, der eine Argumentation beispielhaft, kurz und anschaulich unterstützt.

      e) Metonymie

      Bei der Metonymie (lat. denominatio) wird ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt. Die analogische Verbindung zwischen den Begriffen ist qualitativer Art.1 Das entspricht der etymologischen Wortbedeutung: Der gr. Begriff metonomázein bedeutet umbenennen, einen Namen vertauschen.2 Beide Begriffe gehören – im Unterschied zu Vergleich und Metapher – zum gleichen Wirklichkeitsbereich.3

      Beispiele: Ein ‚Waterloo‘ steht nicht nur für die napoleonische, sondern für jegliche vernichtende Niederlage. – ‚Der Gang nach Canossa‘ steht nicht nur für den Bußgang Kaiser Heinrichs IV. im 11. Jahrhundert nach Rom, sondern für jeglichen Bußgang. – Ein ‚Hoover‘ steht im Englischen für jeden Typ Staubsauger.

      In der Metonymie wird der ursprüngliche Kontext des Begriffs (Waterloo, Canossa, Hoover) verlassen und auf einen anderen Kontext übertragen.4 Zum Verständnis der Metonymie ist die Kenntnis des ursprünglichen Kontexts hilfreich, aber nicht in jedem Falle zwingend notwendig. Begriffe wie Waterloo und Canossa sind lexikalisiert, ihre Bedeutung ist Teil des allgemeinen Wortschatzes.

      Definition: Eine Metonymie ersetzt ein Abstraktum durch ein typisches, anschauliches Beispiel aus demselben Bereich, das sprichwörtlich für das Gemeinte steht.

      f) Synekdoche

      Etymologisch geht es bei der synekdochḗ (gr.) um ein Mitverstehen: Ich höre einen Begriff und assoziiere das Ganze.1 Die Synekdoche funktioniert nach dem Prinzip pars pro toto (ein Teil steht für das Ganze). Das Ganze wird aus dem Teil erkannt, das Besondere aus dem Allgemeinen.2 Wie bei anderen vergleichenden Tropen wird der fragliche Begriff nicht wörtlich, sondern übertragen verwendet.

      Beispiele: Der Ausdruck ‚ein kluger Kopf‘ verweist auf den ganzen, klugen Menschen, ‚vier Pfoten‘ auf Katze oder Hund, ‚die eigenen vier Wände‘ bzw. ‚das Dach über dem Kopf‘ auf das ganze Haus.

      Im Unterschied zu Vergleich und Metapher gehören beide Begriffe nach dem relationalen Verhältnis von Teil und Ganzem dem gleichen Wirklichkeitsbereich an; das verbindet die Synekdoche mit der Metonymie.3

      Definition: In der Synekdoche repräsentiert ein Einzelteil das gemeinte Ganze.

      g) Chiffre

      Das Wort Chiffre leitet sich vom arabischen Begriff sifr (leer; Zahlzeichen ohne absoluten Wert‘) ab.1 In der Lyrik ist die Chiffre ein „demonstrativ rätselhafte[s] Sprach- und Stilmittel eines weitgehend esoterischen, meist lyrischen Code-Gebrauchs“.2 Durch Verdichtung und Verkürzung „mit Hilfe mehrdeutiger, unvollständiger so­wie unzusammenhängend erscheinender Worte und Sätze“3 erscheint die Chiffre rätselhaft. Ohne Deutungsschlüssel


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