Gleichnisse. Kurt Erlemann
nur für narrativ ausgestaltete Gleichnisse zu. Metaphern können lediglich Analogien oder Unterschiede zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen aufzeigen, aber nicht beides zugleich. Die Komplexität des Verhältnisses zwischen Alltagswelt und der Welt Gottes lässt sich nur durch eine fiktionale, dynamisch fortlaufende narratio abbilden. Gleichwohl darf die Metapher (→ 1.4.4b, wie auch der Vergleich, → 1.4.4a) als Grundbaustein der Sprache gelten: Ihr Vorzug besteht darin, Vergleichbarkeiten so auf den Punkt zu bringen, wie es nicht-vergleichender Sprache nicht möglich ist (→ 1.5.12; 2.5.2b).
These 3: Gleichnisse und Metaphern sind auslegbar, aber unersetzbar
Gleichnisse und Metaphern sind auf Deutung hin angelegte Rätselrede. Sie sagen das, worum es geht, ‚durch die Blume‘. Das heißt, ihr eigentlicher Sinn erschließt sich nur durch Deutung. Der Deutungsrahmen ist durch einen gemeinsamen Verstehenshorizont von Autor und Adressaten vorgegeben. Gleichnisse und Metaphern haben einen bleibenden Sinnüberschuss, der im vorgegebenen Rahmen immer wieder neue Deutungen ermöglicht. Das heißt: Gleichnisse und Metaphern sind nicht durch ‚klare Ansage‘ ersetzbar. Gleichnisse leben zudem von der Dynamik der Erzählung, die ebenfalls unersetzlich ist (→ 1.4.4b; 2.5.5c).
These 4: Gleichnisse sind poetisch, haben aber einen rhetorischen Zweck!
Gleichnisse und Metaphern sind poetisch: Sie lassen die Wirklichkeit neu sehen, öffnen ein ‚Fenster zum Himmel‘, machen die Sphäre Gottes ausschnittweise zugänglich. Das Mittel hierfür ist die Analogie zwischen Bekanntem und Unbekanntem, dargeboten durch eine fiktionale, realistisch wirkende narratio, mit dem Ziel, die Herzen spielerisch zum Umdenken, besser: zum Umfühlen zu bewegen (Umkehr, gr. metánoia: Kurskorrektur im Denken und Fühlen).
Mit diesen Eigenschaften sind Gleichnisse und Metaphern regelmäßig in längere Argumentationen eingebettet und unterstützen diese nach dem Motto: ‚Ein (Sprach-)Bild sagt mehr als tausend Worte‘. Die Poesie ist ein rhetorisches Mittel, um Emotionen und Herzen zu bewegen. Rhetorik ohne Poesie wäre einseitig kognitiv und würde Gottes Herrschaft nicht gerecht, die ganz wesentlich von empathischer, gütiger, barmherziger Zuwendung und Liebe lebt (→ 2.5.3b).1
These 5: Die Gleichnisbotschaft Jesu bietet esoterisches Sonderwissen!
Die so genannte synoptische Parabeltheorie Mk 4,10-13parr., die Deutung des Gleichnisses vom Sämann (Mk 4,14-20parr.) und die Notiz Mk 4,33f. belegen, dass Jesu Lehre esoterisch angelegt ist: Ihre eigentliche Zielgruppe sind ‚Insider‘; die Gleichnisdeutung ist exklusiv an die Jünger gerichtet.2 Jesus, der Esoteriker, der seinen Jüngern Sonderlehren vermittelt: Diese Vorstellung sperrt sich gegen das liberal-theologische, von Jülicher übernommene Bild von Jesus als ‚Vorzeige-Pädagogen‘, der seine Lehre in unübertrefflicher Klarheit den Menschen vortrug.3
Theologisch erklärt die esoterische Gleichnisdeutung der Synoptiker, weshalb Jesus bei vielen Menschen nicht auf offene Ohren stieß: weil die Erkenntnis der Gottesherrschaft eine Offenheit und eine Lernbereitschaft voraussetzt, die viele Menschen aufgrund von (göttlich verhängter, zeitweiliger) Verstockung nicht mitbringen. Selbst die Jüngerinnen und Jünger stehen ständig in der Gefahr des Nichtverstehens (vgl. Mk 4,13.40; 6,52 u. ö.). – Auf der leserbezogenen Ebene sind die Gleichnisse eine Einladung, zu ‚Insidern‘ zu werden. Das heißt, sie sind werbend-missionarisch ausgerichtet. ‚Geheimwissen weckt Neugier‘ – so lässt sich der pädagogische Sinn esoterischer Unterweisung umschreiben. Die Gegner Jesu und die kleingläubigen Jünger fungieren hier als Negativ-Vorbilder (→ 2.5.3b).
These 6: Die Gleichnisse Jesu sind eschatologische Gerichtsrede, kein ‚Sprachereignis‘!
Mk 4,10-13parr. läuft auf die Unterscheidung von Insidern und Außenstehenden hinaus (V.11). Die Jünger kennen das Geheimnis der Herrschaft Gottes (gr. basileía tou theoú); die anderen entdecken es nicht einmal durch gleichnishafte Rede, denn sie sind verstockt (V.12). Die Gleichnisse sind das Mittel der Wahl, um das Gericht an den Verstockten voranzutreiben.4 Die Reaktion auf das Winzergleichnis Mk 12,1-12parr. bestätigt die eschatologisch-kritische Funktion der Gleichnisse: Die angesprochenen Gegner Jesu lassen sich nicht belehren, im Gegenteil. – In der polarisierenden Wirkung der Gleichnisse und des sonstigen Wirkens Jesu vollzieht sich der endzeitliche Gerichtsprozess gewissermaßen in erster Instanz. Die zweite Instanz, das Weltgericht nach der Parusie Christi, macht das Urteil der ersten Instanz offenbar.5 – Allerdings ist ein Gleichnis kein performatives Sprachereignis, das die basileía Gottes allein durch den Erzählvorgang Wirklichkeit werden ließe. Erzählvorgang und Realisierung sind streng zu unterscheiden. Die Realisierung des Endgerichts oder der Gottesherrschaft gehört allenfalls zu den Wirkungen der Gleichnisse (→ 2.2.3d; 2.2.4; 2.5.4).
These 7: Nicht nur die Gleichnisse sind ‚Urgestein‘ der Jesusüberlieferung!
Seit Jülicher gelten Gleichnisse als ‚Urgestein‘ der Jesusüberlieferung. Das suggeriert, man hätte mittels der Gleichnisse einen direkten und zuverlässigen Zugang zum historischen Jesus. Gleichnisforschung war dementsprechend lange Zeit eine Funktion der Jesusforschung.6 Dagegen ist zu halten, dass die Gleichnisse genau wie andere Jesusstoffe bis zur Verschriftlichung erheblichen Transformationen ausgesetzt waren (Rekontextualisierung, Allegorisierung, redaktionelle Angleichungen). Logien, Wundererzählungen, Passionsbericht etc. sind nicht mehr und nicht minder ‚Urgestein‘ der Jesusüberlieferung. – Außerdem ist die Rekonstruktion der Gleichnisse in ihrer mündlichen Urgestalt (ipsissima vox Jesu) exegetisch und hermeneutisch fragwürdig. Das Postulat eines Gleichnis-Idealtyps im Sinne Jülichers und das dabei leitende Jesusbild sind hypothetisch und subjektiv eingefärbt. Der Ansatz des vorliegenden Entwurfs lautet daher: Die schriftlich fixierten Gleichnisse sind hermeneutisch authentische Modelle der Aktualisierung der Gleichnisbotschaft Jesu. In Konsequenz werden die Gleichnisse redaktionskritisch, das heißt als Teil eines antiken Kommunikationsgeschehens zwischen dem Evangelisten und seiner Zielgruppe, betrachtet (→ 2.1.1; 2.2.2; 2.2.6b; 2.5.5b).
These 8: Ohne den Prozess der Allegorisierung wären die Gleichnisse unverständlich!
Der Vorgang der Allegorisierung, das heißt der nachträglichen Anreicherung eines Textes mit (zusätzlichen, veränderten) Transfersignalen, ist positiv zu werten. Er führt zur Aktualisierung des Gleichnistextes in einer veränderten hermeneutischen Situation und ermöglicht es, den ursprünglichen, möglicherweise unverständlich gewordenen Text späteren Adressaten zugänglich zu machen.7
Allegorisierung geschieht etwa durch Einfügung von Extravaganzen und zeitgeschichtlichen Anspielungen. Das Motiv der Zerstörung der Stadt im Hochzeitsgleichnis Mt 22,1-14 (V.7) ist eine Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems (70 n.Chr). Die Vertauschung der Ereignisfolge im Winzergleichnis (Mk 12: erst Tötung, dann Hinauswurf aus dem Weinberg; umgekehrt Mt 21par. Lk 20) spiegelt den historischen Vorgang der Tötung Jesu außerhalb der Stadt wider (→ 2.2.5b; 2.5.5b).
These 9: Alle Gleichnisse sind Allegorien!
Das gilt erst einmal etymologisch (gr. állo légein – etwas anderes sagen, als man meint). Gleichnisse denken ‚um die Ecke‘ bzw. vermitteln ihre Botschaft ‚durch die Blume‘. Die antike Rhetorik nennt das ‚uneigentliche‘ Rede.8 Als Allegorien im wörtlichen Sinne sind Gleichnisse rätselhaft und auf Deutung hin angelegt. Das zeigen schon die synoptische Parabeltheorie Mk 4,10-13parr. und die erste, gleichsam programmatische Deutung eines Gleichnisses im Markusevangelium, Mk 4,14-20 (vgl. Mt 13,36-43!). – Von der etymologischen Bedeutung von Allegorie ist Allegorie als Gattungsbegriff zu unterscheiden (→ 1.4.3; 2.2.5b; 2.5.2a).
These 10: Gleichnis und Allegorie unterscheiden sich in ihrer Zwecksetzung!
Transfersignale weisen auf einen externen Referenzrahmen (Deutungsebene) des Erzählten hin und machen das Gleichnis somit als Gleichnis kenntlich. Zu unterscheiden sind Signale, die den Textsinn klären, ihn lediglich andeuten oder ihn sogar verschleiern (→ 1.5.9). Die These lautet: Das Verhältnis zwischen Gleichnis und Allegorie entspricht dem Mischungsverhältnis von klärenden,