Gleichnisse. Kurt Erlemann
Voraussetzung. Der Unterschied zwischen Gleichnis und Allegorie ist, so gesehen, textpragmatischer, nicht formkritischer Art. Die Allegorie ist als Extremfall gleichnishafter Rede anzusehen, in dem verschleiernde Transfersignale (kühne Metaphern, Chiffren, Surrealistik) dominieren, klärende und andeutende dagegen weitgehend fehlen. Das verleiht den Texten einen hermetischen Charakter; Allegorien sind hermetische Gleichnisse. Biblische Allegorien finden sich bevorzugt in subversiv-apokalyptischer Literatur (Daniel, Johannesoffenbarung). Sie sind nur für Insider verständlich, die den (im Text nicht genannten) Verstehenscode kennen und damit die Geheimsprache der Allegorie dechiffrieren können. Die Dechiffrierung (Allegorese) geschieht im Reißverschluss-Verfahren (→ 2.1.3g; 2.5.5d).
These 11: Das Auslegungsverfahren der Allegorese ist kein Tabu!
Der Blick auf die synoptische Parabeltheorie und die programmatischen Gleichnisdeutungen in Mk 4parr. zeigte noch ein Weiteres: Allegorese als Auslegungsverfahren ist nicht per se tabu! Die Evangelisten führen exakt das vor, was in historisch-kritischer Exegese seit Jülicher verpönt ist: Allegorese als legitimes Auslegungsverfahren. Dabei werden die einzelnen Bildelemente des Gleichnisses, selbst rein dekorative wie Weg, Fels und Dornen, vorbehaltlos ausgedeutet. Allegorese gibt es auch in anderen neutestamentlichen Texten, vgl. Gal 4,21-31.
Für den historisch-kritischen Zugang folgt daraus die Forderung nach einer Enttabuisierung des Allegorese-Verfahrens für solche Texte, die mangels klärender Transfersignale wie Einleitung oder Anwendung einen hermetischen Zug aufweisen. Hierzu gehört etwa das Sämann-Gleichnis Mk 4,3-9parr. Erst recht ist Allegorese bei Allegorien in intravisionären Texten angebracht (→ 2.5.2a; zur Allegorese → 2.2.5b). Bei vielen anderen Gleichnissen sind allerdings nach wie vor Pointenermittlung und die Decodierung der Metaphorik leitend (→ 2.5.5d; 3.1 – 3.4).9
These 12: Es lassen sich Gleichnistypen unterscheiden – allerdings nicht formkritisch, sondern textpragmatisch!
Eine formkritische Unterscheidung von Gleichnistypen, wie sie die ältere Gleichnisforschung versucht hatte, ist heute nicht mehr konsensfähig – zu viele Mischformen sind erkennbar; zu willkürlich, nicht abgedeckt durch die antike Formenlehre, erscheinen die Unterscheidungskriterien. Dem programmatischen Verdikt Ruben Zimmermanns „Parabeln – sonst nichts!“10 hält der vorliegende Entwurf eine textpragmatisch begründete Einteilung der Gleichnisstoffe entgegen. Die These lautet, dass bestimmte Fragestellungen und Themen mithilfe passender Bildfelder und Erzählstrategien bearbeitet und gelöst werden. Insgesamt vier textpragmatische Modelle und damit vier Gleichnistypen lassen sich voneinander unterscheiden: Natur-, Weisheits-, Alltags- und Identitätsgleichnisse. Die Unterscheidung hat eine heuristische Funktion, das heißt, sie dient lediglich der Orientierung bei der Erschließung vergleichender Texte (→ 2.5.7).
These 13: Die Rede von der ‚Sache‘ ist unsachgemäß und daher aufzugeben!
Seit Jülicher gilt Gottes basileía als Passepartout zur Deutung der Gleichnisse. Abgesehen davon, dass Gottes Reich bzw. Herrschaft längst nicht bei allen Gleichnissen als Bezugspunkt genannt wird, ist das, worum es im Gleichnis eigentlich geht, erheblich komplexer, als es der Begriff ‚Sache‘ einzufangen vermag: Die Deutungsebene beinhaltet ein komplexes Bündel religiöser Erfahrungen und theologischer Erkenntnisse vom Gottesbild über die Christologie und die Ekklesiologie bis hin zur Ethik und Eschatologie. Kurz: Die Gleichnisse Jesu unterziehen alle Themenbereiche theologischen Nachdenkens einer Revision; nichts ist mehr so, wie es sich vorher dargestellt hat. Die Welt, die Zeit, der Alltag usw. erhalten durch die Ansage der Nähe Gottes und seiner heilvollen Wirklichkeit etwas Vorläufiges, Relatives und neu zu Durchdenkendes. Der nahe Gott wirbelt alles durcheinander – das Denken, das Fühlen, das Handeln – und stellt menschliche Wertmaßstäbe in Frage. Angesichts der ungeheuren Dynamik und des provokativen Potenzials der Gleichnisbotschaft erscheint der Begriff ‚Sache‘ unsachgemäß. Besser ist von einem theologischen Bezugsrahmen zu sprechen, innerhalb dessen viele theologische Aspekte angesprochen werden (→ 1.5.10; 2.5.6).
These 14: Gleichnisse führen zurück zu den basics eines gelingenden Lebens
Gleichnisse eröffnen vom Standpunkt der Nähe Gottes aus einen neuen Blick auf den Alltag. Vieles, was bislang unmöglich schien, erscheint auf einmal möglich. Vieles, was gesellschaftliche Akzeptanz besaß, erscheint dagegen deplatziert. Entlarvt werden faule Kompromisse, Klischees, fragwürdige Verhaltensmuster und unheilvolle Moral. Prioritäten und Werteskalen werden auf den Kopf gestellt. Die gemeinsame Fluchtlinie all dieser Irritationen lautet: Gott ist nah; er kommt, um die Menschen zu einem Leben in Fülle zu befreien. Alles, was dies behindert, hat keinen Raum mehr! Der Alltag ist damit bedeutunglos geworden (→ 2.5.7).
These 15: Jülicher hat vieles richtig gesehen!
Adolf Jülicher wurde in den letzten hundert Jahren von unterschiedlichen Seiten der Gleichnistheorie kritisiert und demontiert. Es stellt sich bei näherem Hinsehen jedoch heraus, dass viele seiner Erkenntnisse in die richtige Richtung gingen:
1. Jülichers Überzeugung vom rhetorischen Zweck der Gleichnisse hat in den letzten Jahrzehnten wieder viel Zustimmung erfahren (vgl. These 4).
2. Schon Jülicher erkannte die poetische Seite der Gleichnisse, auch wenn er sie nicht gleichnistheoretisch fruchtbar machte (vgl. These 4).11
3. Der Vorgang der Allegorisierung lässt sich exegetisch nachvollziehen, auch wenn er heute anders bewertet wird (vgl. These 8).
4. Allegorie und Gleichnis stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, auch wenn dies heute anders bestimmt wird (vgl. Thesen 9 und 10).
5. Das Verständnis der Allegorie als einer verschleiernden Redeweise und Jülichers anti-allegorischer Affekt sind im Kern richtig. Bei einigen Gleichnistexten ist freilich Allegorese geboten und durch Mk 4parr. auch legitimiert (vgl. These 11).
6. Die Einteilung in Gleichnistypen ist nach wie vor ein Desiderat (vgl. These 12).
7. Die Annahme einer ‚Sache‘ der Gleichnisse wird auch heute weithin vertreten, auch wenn der Begriff nicht mehr sachgemäß scheint (vgl. These 13).
8. Die antike Rhetorik ist und bleibt für die Theoriebildung ein Fixpunkt.
9. Am Kontextbezug der Gleichnisse wird noch immer mehrheitlich festgehalten.
10. Auch an der Bedeutung der Pointe (bei Jülicher: tertium comparationis) für die Gleichnisauslegung wird festgehalten.
Manche Überzeugungen sind freilich überholt: die Bewertung von Metapher und Allegorie, der Erzählform, des ‚Idealtyps‘, der Allegorisierung, der esoterischen Tendenz, rabbinischer Vergleichstexte oder der Gleichnis-‘Sache‘. Die Entwicklungen sind veränderten Fragestellungen und neueren methodischen Zugängen geschuldet; sie schmälern aber das Vermächtnis Jülichers in keiner Weise (→ 2.1.4).
1.4 Vergleichende Textformen1
Rund um die Gleichnisforschung sind einige Fachbegriffe vorab zu klären. Mehr als hundert Jahre verzweigter Forschungsgeschichte über verschiedene Fachdisziplinen hinweg führten zu uneinheitlichen Begriffsdefinitionen, so etwa die vergleichenden Textformen selbst und Jülichers formkritisch motivierte Bestimmung von Gleichnistypen.2 Andere Begriffe, wie Bildhälfte, Sachhälfte, ‚Sache‘, Sachebene, Bildwort und Gleichnisdiskurs, sind kritisch zu prüfen (→ 1.5; 2.1.3).
1.4.1 Parabel / Gleichnis / Parömie
Der Begriff Parabel (gr. parabolḗ) ist vom griechischen Verb parabállein abgeleitet, was daneben stellen, vergleichen meint. Verglichen werden in der Parabel zwei ursprünglich unabhängige Größen oder Wirklichkeitsbereiche, die durch bestimmte Merkmale vergleichbar erscheinen (z. B. menschliche Alltagswirklichkeit und Wirklichkeit Gottes in den Reich-Gottes-Gleichnissen).
Parabel ist im Neuen Testament der gängigste Terminus für bildhaft-vergleichende,