Gleichnisse. Kurt Erlemann
Ausgangsebene (auch: Basisebene) zu nennen. In den Evangelien entwickelt sich auf ihr der Plot der Jesuserzählung, der durch das Gleichnis unterbrochen wird. Die Ausgangsebene wechselt zu einer Bild- besser: Erzählebene mit eigener (bildhafter) Semantik bzw. mit eigenem metaphorischen Bildfeld (Vater – zwei Söhne; Sämann – Acker; Hausherr – Bedienstete etc.). Zwischen den Ebenen vermittelt häufig eine Übergangsebene, die auf die Erzählebene hin- und zur Ausgangsebene zurückführt. Sie kann am Anfang des Textes aus dem Hinweis bestehen, dass nun ein Gleichnis folgt, oder aus einer Frage der Art: „Womit sollen wir das Himmelreich vergleichen?“ Am Ende des Textes steht zuweilen eine Anwendung (‚gehe hin und tue desgleichen!‘ o.ä.), ein Weckruf (‚wer Ohren hat zu hören, der höre!‘) oder eine Schluss-Sentenz (‚viele sind berufen, wenige aber auserwählt‘ o.ä.). Der Übergangsebene kommt eine wichtige Funktion im Hinblick auf das Verständnis des Gleichnisses zu. Sie liefert entweder den Verständniscode oder lenkt die Auslegung in eine vom Autor intendierte Richtung.
Definition: Ausgangsebene bezeichnet den literarischen Kotext eines vergleichenden Textes. Bild- bzw. Erzählebene meint die semantisch abgehobene Ebene der Metapher / des Gleichnisses. Die Übergangsebene vermittelt zwischen beiden.
1.5.2 Bild- bzw. Erzählebene und Deutungsebene
Vergleichende Texte beinhalten neben dem wörtlichen Sinn einen dahinter liegenden, tieferen, theologischen Sinn. Was eigentlich gemeint ist, wird durch eine fiktionale Erzählung, eine Metapher oder eine allegorische Rätselrede ausgesagt. Die vordergründige Erzählebene mit ihrer bildhaft-metaphorischen Semantik verweist auf die hier so genannte Deutungsebene. Diese gilt es im Verlauf der Auslegung zu bestimmen.1 – Bei Gleichnissen, die zu einer dynamischen Erzählung ausgestaltet sind, ist der Begriff Erzählebene adäquat. Der Ausdruck Bildebene bleibt narrativ nicht ausgestalteten Texten vorbehalten.
Definition: Die Bild- bzw. Erzählebene enthält die Metapher bzw. das Gleichnis. Die Deutungsebene ist die zu bestimmende, dahinter liegende Sinnebene.
1.5.3 Bildspender und Bildempfänger
Vergleichende Texte verbinden ursprünglich unabhängige Wirklichkeitsbereiche miteinander. Hinter vergleichender Redeweise steht die Entdeckung einer oder mehrerer Analogien zwischen den Bereichen. Vergleichende Texte machen einen fremden, unanschaulichen Wirklichkeitsbereich (z. B. ‚Reich Gottes‘) in seinen Eigenheiten und Wirkweisen anschaulich und plausibel. Hierfür greifen sie auf einen bekannten, anschaulichen, in seinen Eigenheiten und Wirkweisen unstrittigen Wirklichkeitsbereich (z. B. den bäuerlich geprägten Alltag) als Bildspender zurück, um ihn auf die Deutungsebene als Bildempfänger zu übertragen.
Beispiel: In der Metapher ‚Achill ist ein Löwe‘ ist die Tierwelt der Bildspender und der mythische Held der Bildempfänger.
Durch diesen Prozess werden die beiden Wirklichkeitsbereiche füreinander transparent; die Wahrnehmung beider Bereiche ändert bzw. erweitert sich (→ 1.4.4b).
Definition: Der Bildspender spendet das Anschauungsmaterial, anhand dessen das, was zu vergleichen ist (der Bildempfänger), anschaulich gemacht wird.
1.5.4 Tertium bzw. tertia comparationis
Der Vergleichspunkt zwischen Bildspender und Bildempfänger heißt lat. tertium comparationis (wörtlich: das Dritte des Vergleichs). Es steht als drittes, verbindendes Element, als Analogon, zwischen den beiden Ebenen.
Beispiel: Beim Vergleich ‚seid klug wie die Schlangen‘ (Mt 10,16) ist die Tierwelt der Bildspender, die Jünger sind die Bildempfänger und ‚klug‘ ist das tertium zwischen beiden.
Jülicher postulierte für Gleichnistexte lediglich einen einzigen Vergleichspunkt; die neuere Gleichnisforschung rechnet grundsätzlich mit mehreren Vergleichspunkten, was dem Sinnüberschuss metaphorischer Sprache entspricht.
Definition: Der Vergleichspunkt, lat. tertium comparationis, ist der Aspekt, der zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche vergleichbar erscheinen lässt.
1.5.5 Pointe
Der Zielgedanke, auf den die vergleichende Erzählung hinausläuft, heißt in der Gleichnistheorie Pointe. War ihre Ermittlung in Jülichers Methodik gleichbedeutend mit der Ermittlung des Vergleichspunkts zwischen Bild und ‚Sache‘, unterscheidet man heute zwischen beiden Vorgängen. Der Ermittlung der Pointe kommt in der Exegese eine überragende Bedeutung zu, da sie die Kerngedanken bündelt und die Gefahr von Allegorese (→ 2.2.5b), die sich gerne an Nebenzügen der Erzählung orientiert, eindämmt. Die Pointe bringt den Kern- bzw. Zielgedanken des Gleichnisses in einem einzigen Satz auf den Punkt. Dieser Satz ist ein neuer, nicht-vergleichender Text, der das Gleichnis nicht ersetzen kann, da er die Dynamik und den Sinnüberschuss der narratio nicht einfängt.1
Zu unterscheiden ist, entsprechend der Unterscheidung zwischen Erzähl- und Deutungsebene, zwischen der erzählintern und der textübergreifend, theologisch formulierten Pointe. Bei der Auslegung ist die Pointe zunächst erzählintern und erst nach der Klärung der Metaphorik theologisch zu formulieren (→ 3.1; 3.3).
Definition: Die Pointe ist der Kern- bzw. Zielgedanke eines vergleichenden Textes, der im Zuge der Deutung zu formulieren ist – entweder in der Semantik der Erzählebene (erzählintern) oder der Deutungsebene (theologisch). Die Pointe ist ein nicht-vergleichender Text, der das Gleichnis bündelt, es aber nicht ersetzt.
1.5.6 Fiktionalität und Appellstruktur
Gleichnisse sind fiktionale Kurzerzählungen, das heißt erfundene Kurzgeschichten, die das, worum es geht, plausibel machen sollen. Der Weg über die Fiktionalität erleichtert es, sich als Hörer auf die Argumentation des Textes einzulassen.
Rezipienten lassen sich zugleich ‚nur‘ spielerisch und ‚in gewisser Weise‘ ernsthaft auf fiktionale Texte ein.1
Frank Zipfel beschreibt fiktionales Erzählen als kulturell institutionalisierte Praxis, über deren Regeln es zwischen Autor und Adressaten Einvernehmen gibt:
Der Autor produziert einen Erzähltext mit nicht-wirklicher Geschichte, die von einem Erzähler dargestellt wird, und der Autor tut dies mit der Intention, dass der Rezipient diesen Text mit der Haltung des make-believe aufnimmt bzw. in der Haltung des fiktiven Adressaten, und der Rezipient erkennt diese Absicht des Autors und lässt sich aus diesem Grunde darauf ein, den Erzähl-Text unter den Bedingungen eines make-believe-Spiels zu lesen.2
Fiktionalität ist demnach kein Täuschungsversuch, sondern eine konsensuelle Form des Erzählens. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, ein bestimmtes Argument gleichsam spielerisch zu plausibilisieren. Der damit verknüpfte ‚metaphorische Prozess‘ verläuft spielerisch, da die Fiktionalität den Rezipienten einen pragmatischen Freiraum lässt.3 Konstitutiv ist der Bezug auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit (eine philosophische, moralische oder politische Position), die durch die Erzählung neu gesehen werden sollen.4 Realistik, selbst wenn sie sich als Pseudo-Realistik entpuppt, ist für das Gelingen der fiktionalen narratio entscheidend.5 Gleichnisse sind ein prominentes Beispiel für diese rhetorische Strategie.
Die Fiktionalität der gleichnishaften narratio zielt über die Information auf Gefühle und praktisches Handeln. Gleichnisse sind appellativ auf aktives Hören und Handeln angelegt (Mk 4,3.9: ‚Wer Ohren hat zu hören, der höre!‘; Lk 10,37: ‚Geh hin und tu desgleichen!‘).6 Gleichnisse (auch Metaphern) fordern zu einer fälligen Entscheidung oder zu einer Kurskorrektur auf. Motivierend wirken die Ansage der Zuwendung Gottes und seiner Herrschaft sowie die Entlarvung der Alltagswirklichkeit mit ihren Wertmaßstäben als zu überwindendes Provisorium.
Definition: Fiktionalität ist das rhetorische Mittel einer erfundenen, in sich schlüssigen narratio, mit deren