Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt
Hörschädigungen gehören – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – zu den verbreitetsten körperlich-funktionellen Beeinträchtigungen. Lärmbedingte Erkrankungen stehen – bei vermutetem weiteren raschen Ansteigen – schon seit langem an der Spitze aller Berufskrankheiten (Neubert 1970 in Richtberg 1980, 5). Nach Lüdtke (1989, 42) nimmt die Lärmschwerhörigkeit (nach den Hautkrankheiten) die zweite Stelle bei den Berufskrankheiten ein.
Mit einem insgesamten Anwachsen der Zahl der Menschen mit Hörschädigung ist in Zukunft weiter zu rechnen, u. a. aufgrund allgemein zunehmender Lärmbelästigung (z. B. im Straßenverkehr, im Beruf) oder auch aufgrund veränderten Freizeitverhaltens (stundenlanges übermäßig lautes Hören mit Kopfhörern oder häufiger Besuch von dröhnenden Diskotheken oder beispielsweise Pop- und Metal-Konzerte).
Statistik: USAKrüger (1991, 26) verweist auf verschiedene Studien in den USA und kommt zu folgender Aussage:
„Regelmäßige Erhebungen in den USA erbringen gegenwärtig Prozentsätze von 7 – 8 % an Personen mit Hörproblemen (‘some difficulty hearing, including tinnitus’) und dies mit zunehmender Tendenz und Hochrechnungen auf 12 % im Jahre 2050. Etwa die Hälfte davon, d. h. 3,5 %, ist von einem bilateralen signifikanten Hörverlust betroffen. Als ,deaf’ (gehörlos und hochgradig schwerhörig, so daß sprachliche Kommunikation allein über das Gehör nicht möglich ist) werden rund 2 Millionen (knapp 1 %) eingestuft, davon 1/5 (400.000) mit einer Ertaubung vor dem 20. Lebensjahr (prevocational) und 1/10 (200.000) vor dem 3. Lebensjahr (prelingual).“
Der gleiche Autor verweist auf 60.000 Gehörlose (1991, 26) in der Bundesrepublik Deutschland, während Wisotzki 80.000 Gehörlose angibt (1998, 36), wobei aus beiden Angaben nicht hervorgeht, ob sich die Zahlen auf die alten Bundesländer oder die gesamte BRD beziehen. Arnold und Ganzer (2011) geben für die BRD (darin sind folglich alle Bundesländer erfasst) die Zahl mit ca. 20.000 Gehörlosen an.
Der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) sprach 2009 (DSB 2009) und 2017 (DSB 2017) von je 14 Millionen Menschen mit Hörschädigungen in Deutschland, wovon rund 2,5 Millionen Hörgeräteträger seien (DSB 2009).
Statistik: AltersverteilungAbbildung 21 gibt einen Überblick über die Altersverteilung. Aus der Abbildung wird ersichtlich, dass von allen nennenswert Hörgeschädigten etwa die Hälfte im Erwerbsalter (20 bis 60 Jahre) steht. Im Alter über 60 Jahre sind fast ebenso viele (45 %) betroffen und nur ein geringer Teil, nämlich 1/25 oder 4 %, sind im Kindes- und Jugendalter.
Abb. 21: Altersverteilung der Hörgeschädigten (aus: Krüger 1991, 26)
Abb. 22: Übersicht über die Lebensalter, in denen die Gehörlosigkeit eintritt (bzw. festgestellt wird) (aus: Heese 1961, 14)
Heese (1961, 13f) verwies darauf, dass die Lebensalter, in denen Gehörlosigkeit oder Ertaubung am häufigsten eintritt, im frühen Kindes- und im höheren Alter liegen. Von ihm stammt Abbildung 22, die ein sprunghaftes Anwachsen von Hörschäden jenseits des 50. Lebensjahres zeigt. Ähnliche Aussagen trifft Heese auch in späteren Publikationen. So verweist er auf „im Erwachsenenalter mehr als 0,05 % Gehörloser der Jahrgänge mit stark zunehmend höherem Prozent-Anteil nach dem fünften Lebensjahrzehnt“ (Heese 1995, 87).
Für den Altersabschnitt 0 – 5 Jahre (Abb. 22) sei darauf verwiesen, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Abbildung (1961) die Früherkennung von Hörschäden nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden kann.
Auf Basis der Statistik der Schwerbehinderten aus dem Jahr 2001 erstellten Streppel et al. (2006) Abbildung 23. Erfasst wurden hier Personen mit einem Behinderungsgrad von mindestens 50 %. Aus der Abbildung werden – wie schon bei Heese 1961 – ein deutliches Ansteigen ab etwa dem fünften Lebensjahrzehnt und eine höhere Betroffenheit von Männern deutlich.
Statistik: Beginn des 20. Jahr hunderts Aus historischer Sicht sei noch auf Statistiken Anfang des 20. Jahrhunderts verwiesen:
■ Nach der Volkszählung des Deutschen Reiches 1900 machten die „Taubstummen“ einen Anteil von 0,86 % aus; es gab also 8,6 Taubstumme auf 10.000 Einwohner. Für das Jahr 1925 wird ein Anteil von 0,69 %, also 6,9 Taubstumme auf 10.000 Einwohner, angegeben (Schumann 1929, 13). Heese (1961, 12) gibt unter Verweis auf die gleiche Volkszählung für das Jahr 1925 0,73 % an (unter Bezug auf: Statistik d. Dtsch. Reiches. Bd. 419 [Die Gebrechlichen im Dtsch. Reich n. d. Zählung v. 1925/26] Berlin [Statist. Reichsamt 1932, 408]).
■ Bereits Schumann (1929, 13) verwies auf erhebliche Abweichungen in den Durchschnittszahlen unterschiedlicher Länder. Beispielhaft sei auf folgende Angaben verwiesen:
– Niederlande (1869): 3,35 Taubstumme auf 10.000 Einwohner
– Luxemburg (1922): 5,98 Taubstumme auf 10.000 Einwohner
– Schweiz (1870): 24,50 Taubstumme auf 10.000 Einwohner
– USA (1890/1910): 6,5/4,48 Taubstumme auf 10.000 Einwohner.
Abb. 23: Schwerbehinderte mit Taubheit bzw. Schwerhörigkeit als schwerster Behinderung pro 100.000 der Bevölkerung 2001 (Streppel et al. 2006, 8)
Aus allen Statistiken wurde deutlich, dass Hörschädigungen keine seltenen Ausnahmeerscheinungen sind, schon rein quantitativ verdienen sie größere Beachtung.
Bei den Angaben des Statistischen Bundesamtes (Tab. 8 und 9) ist zu beachten, dass hier nur Menschen mit Hörschädigung erfasst sind, die nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannt sind. Demzufolge ist von einer weit größeren Anzahl Betroffener auszugehen.
Statistik: Kinder und JugendlicheWie bereits ausgeführt, enthält die Gesamtgruppe der Menschen mit Hörschädigung nur einen vergleichsweise geringen Teil im Kindes- und Jugendalter. Die grundsätzliche Problematik der sehr unterschiedlichen Zahlenangaben verschiedener Statistiken bleibt auch hier bestehen.
Eysholdt (2015) betont, dass es in Deutschland keine genauen Studien über die Prävalenz kindlicher Schwerhörigkeit (es werden hier offensichtlich alle kindlichen Hörschädigungen, also auch die Gehörlosigkeit, gemeint) gibt, abgesehen von epidemiologisch angreifbaren Untersuchungen von Patienten-Interessenverbänden. Schätzungen über die Anzahl von Kindern mit Hörschädigung in sonderpädagogischen Einrichtungen belaufen sich auf etwa 80.000 Kinder, über deren Hörverlust und Altersverteilung wenig bekannt ist.
Nach einer Analyse aktueller angloamerikanischer Studien beziffert Eysholdt (2015) die Inzidenz angeborener Hörschädigung mit 1:10.000. Hinzu kommen erworbene Formen kindlicher Hörschädigungen, die Hirnreifung und Spracherwerb stören (können). Das Risiko für kindliche Hörschäden von 50 dB Hörverlust (und darüber hinaus) kann pauschal mit 1:1.000 angesetzt werden. Gross et al. (1999) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Häufigkeit kindlicher Hörstörungen zwischen 0,9 und 13 %. Um die Datenlage zu verbessern, begann man mit dem Aufbau eines „Deutschen Zentralregisters für kindliche Hörstörungen (DZH)“. Das Zentralregister entstand 1994 als ein drittmittelfinanziertes Projekt und hat 1996 damit begonnen, Kinder mit persistierenden (bleibenden) Hörschäden flächendeckend in der Bundesrepublik zu erfassen. Es befindet sich an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin (Berlin) und hat sich zur Aufgabe gestellt, mit Hilfe eines Patientenregisters eine möglichst realistische Darstellung der epidemiologischen, sozialdemographischen und medizinischen Situation von Kindern mit Hörschädigung zu geben. Nach 20 Jahren waren 14.239 Kinder und (mittlerweile) Erwachsene erfasst. Für die Geburtsjahrgänge