Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt
ohne technische Hilfen (Hörgeräte) ein soziales Gehör vorhanden ist. Daher besuchten diese Kinder seit jeher einen allgemeinen Kindergarten oder eine allgemeine Schule. Eine hörgeschädigtenspezifische Begleitung ist dabei zu gewährleisten. Liegt allerdings eine weitere Behinderung vor, so ist mit nachteiligen Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung des Kindes weit eher zu rechnen, so dass dies bei der pädagogischen Begleitung und Förderung entsprechend Berücksichtigung finden muss.
Abb. 15: Schallleitungsschwerhörigkeit
b) Schallempfindungsschwerhörigkeit (auch Sensorineurale Schwerhörigkeit) Die Schallempfindungsschwerhörigkeit (auch Sensorineurale Schwerhörigkeit) beruht auf pathologischen Veränderungen des Cortischen Organs oder retrocochleär der nervalen Hörbahn. Deswegen sind zwei Formen zu unterscheiden: die sensorische (auch cochleäre) Schwerhörigkeit und die neurale (auch retrocochleäre) Schwerhörigkeit. Die beiden Schädigungsformen können auch gleichzeitig auftreten.
Das Tonaudiogramm (Abb. 16) weist für Luft- und Knochenleitung den gleichen Hörverlust aus, d. h., es besteht keine Luftleitungs-Knochenleitungs-Differenz.
Aus dem Kurvenverlauf kann man entnehmen, dass die Störung entweder im Innenohr oder von da aus zentralwärts liegt. Um den genauen Ort der Funktionsstörung zu finden, bedarf es einer Differenzialdiagnostik durch spezielle audiologische Tests.
Die Hörschwelle verläuft bei einer sensorineuralen Schwerhörigkeit nicht linear, die höheren Frequenzen sind stärker betroffen. Schallereignisse, insbesondere die Lautsprache, werden zumeist verzerrt wahrgenommen, weil Teilbereiche des Sprachfeldes (insbesondere die hochfrequenten Sprachanteile) unterhalb der subjektiven Hörschwelle liegen. Diese sind jedoch für das Verstehen von Sprache wichtig. Es liegt also eine Beeinträchtigung der auditiven Differenzierungsfähigkeit vor, wodurch z. B. Sprachlaute nicht adäquat aufgenommen werden können.
Abb. 16: Mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits
Eine einfache lineare Verstärkung der Intensität, z. B. durch lautes Sprechen, bietet dem von dieser Art betroffenen schwerhörigen Menschen keine Hilfe. Hörgeräte können eine wirkungsvolle Hilfe sein. Voraussetzungen für einen wirklichen Hörgewinn sind jedoch eine gründliche audiologische Diagnostik durch den HNO-Arzt, eine sorgfältige Anpassung der Hörgeräte durch den Akustiker sowie eine Hörerziehung bzw. ein Hörtraining (Kap. 10.1), die bzw. das auf die individuelle audiologische Situation abgestimmt ist.
Die Ursachen der sensorineuralen Schwerhörigkeit sind vielfältig. Sie kann vererbt sein, kann pränatal eintreten (z. B. Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft an Röteln oder Toxoplasmose), perinatal (z. B. durch Asphyxie) oder postnatal (z. B. durch Meningitis, Encephalitis, toxische Stoffwechselstörungen, häufige und länger andauernde Lärmeinwirkung) (weiterführende Informationen Kap. 3.3).
Überschwellige Hörstörungen Im Zusammenhang mit der sensorineuralen Schwerhörigkeit ist noch auf zwei Formen überschwelliger (bedeutet über der Hörschwelle des Betroffenen liegende) Hörstörungen hinzuweisen, die die Wahrnehmung und die zentrale Verarbeitung hörbarer Schallerscheinungen zusätzlich erschweren: Bei der sensorischen (oder cochleären) Schwerhörigkeit findet man als typisches audiometrisches Merkmal das Recruitment. Bei der neuralen (oder retrocochleären) Schwerhörigkeit tritt die pathologische Verdeckung auf.
Recruitment Das Recruitment wird durch Innenohr-Haarzellenstörungen verursacht und bewirkt einen pathologischen Lautheitsausgleich. Leise Schallerscheinungen werden nicht gehört, wenn sie unterhalb der Hörschwelle liegen. Signale oberhalb der Hörschwelle werden gut erkannt und im Bereich um 80 dB werden sie ebenso laut empfunden wie von Normalhörenden. Da aber der Abstand zwischen (der herabgesetzten) Hörschwelle und der Schmerzschwelle verringert ist, wird die Unbehaglichkeitsschwelle eher erreicht. Das Recruitment ist oft nicht über die gesamte Frequenzbreite verteilt, sondern betrifft nur bestimmte Bereiche des Frequenzspektrums, die den geschädigten Haarzellenabschnitten der Basilarmembran entsprechen. Dadurch erhöht sich die Kompliziertheit der individuellen auditiven Wahrnehmung weiter. Meist ist das Recruitment mit starken Hörverlusten verbunden, so dass bei Kindern die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung erheblich sein können. Bei enger Dynamik (das ist der Bereich zwischen Hörschwelle und Unbehaglichkeitsschwelle) kann die Hörgeräteanpassung schwierig sein, weil leicht Verzerrungen auftreten. Bei optimaler Verstärkung kann man jedoch ein gutes Sprachgehör erreichen.
Pathologische Verdeckung Die pathologische Verdeckung ist eine abnorme auditive Ermüdung, d. h., unter Geräuschbelastung verschlechtert sich die Hörschwelle des Betroffenen. Laute Schallerscheinungen werden als sehr leise empfunden oder verschwinden ganz. Der Betroffene hat erhebliche Schwierigkeiten, sprachlichen Nutzschall vom Störlärm bzw. Nebengeräuschen zu erkennen. Damit ist das Verstehen von Sprache weitgehend beeinträchtigt.
c) Kombinierte Schallleitungs-SchallempfindungsschwerhörigkeitWenn neben einer Schallleitungsstörung noch eine Funktionsstörung des Innenohres besteht, spricht man von kombinierter Schwerhörigkeit oder kombinierter Schallleitungs-Schallempfindungsschwerhörigkeit oder kombinierter Mittelohr- und Innenohrschwerhörigkeit. Die drei Bezeichnungen werden in der Fachliteratur parallel verwandt. Bei dieser Form der Schwerhörigkeit weist das Audiogramm (Abb. 17) sowohl einen herabgesetzten Verlauf der Knochenleitungskurve als auch der Luftleitungskurve aus, zwischen beiden liegt jedoch eine Differenz. Der Hörverlust für die Luftleitung ist immer größer als der für die Knochenleitung. Die Schallempfindungsschwerhörigkeit dominiert jedoch und bestimmt das Wahrnehmungsgeschehen.
d) GehörlosigkeitGehörlosigkeit ist eigentlich keine gesonderte Hörstörung, sondern beruht auf einem hochgradigen Schallempfindungsschaden. Anders ausgedrückt: Die sensorische oder neurale Schwerhörigkeit bedeuten im Extremfall eine praktische Taubheit oder Gehörlosigkeit (Abb. 18). Eine absolute Taubheit, bei der keinerlei Hörreste mehr vorhanden sind, ist sehr selten und tritt eigentlich nur dann auf, wenn der Hörnerv oder das primäre Hörzentrum zerstört sind. Ungefähr 98 % der Menschen, die als „gehörlos“ bezeichnet werden, verfügen über Hörreste (Pöhle 1994, 12). Diese Hörreste sind jedoch so gering, dass Lautsprache auf natürlichem (imitativem) Wege nicht oder bei Verwendung von digitalen Hörgeräten nur unter bestimmten Bedingungen, d. h. durch spezifische Förderung und Erziehung, erlernt werden kann. Die heute möglich gewordenen frühzeitigen und bilateralen Cochlea Implantat-Versorgungen eröffnen inzwischen vielen dieser Kinder – bei entsprechender hörgeschädigtenpädagogischer Begleitung – einen über das Hören vollzogenen Spracherwerb (Kap. 7 und 11). Lange Zeit galt als Gehörlosigkeit, wenn der Hörverlust im Hauptsprachbereich (liegt zwischen 500 und 4.000 Hz) größer als 90 dB war. Durch die Entwicklung der modernen Hörgerätetechnik und durch die Effektivität auditiv-verbaler Frühförderung ist diese Definition aus pädagogischer Sicht nicht mehr haltbar (Diller 1991; Pöhle 1994).
Abb. 17: Hörverlustaudiogramm einer kombinierten Schwerhörigkeit beidseits
Abb. 18: Beispiel für ein Hörverlustaudiogramm bei Gehörlosigkeit beidseits
Ausmaß des Hörverlustes Neben der Art des Hörschadens wird das Ausmaß des Hörverlustes (gemessen in Dezibel [dB] als Maß der für die Tonwahrnehmung oder das Sprachverstehen notwendigen relativen Lautstärkeerhöhung) ermittelt. Bestimmt wird die Hörschwelle mit einem Audiometer, mit Hilfe dessen ein Audiogramm grafisch erstellt