Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt

Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik - Annette Leonhardt


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Lernen und deren soziale Eingliederung erschwert sind (1998, 29). Als Gegenstand bestimmt er:

      Gegenstand der Behindertenpädagogik ist das Lernen und die soziale Eingliederung angesichts erschwerten Lernens und erschwerter sozialer Eingliederung.

      Gegenstand der Sonderpädagogik nach Bach Bach (er verwendet den Begriff Sonderpädagogik) sieht den Gegenstand der Sonderpädagogik folgendermaßen:

      „Sonderpädagogik erstreckt sich

      – auf alle Arten der Beeinträchtigungen (also nicht nur auf Behinderungen, sondern ebenso auf Störungen, Gefährdungen und Sozialrückständigkeiten),

      – auf alle Formen von Beeinträchtigungen (und nicht nur auf intellektuelle, sondern ebenso auf sensorielle, motorische und anderen Formen),

      – auf alle Altersstufen (und nicht nur auf die Kindheit, sondern ebenso auf das Säuglings- und das Erwachsenenalter) und

      – auf das ganze Erziehungsfeld (und nicht nur auf die Schule, sondern ebenso auf das familiäre und auf andere Erziehungsfelder)“ (1995, 11) (Abb. 2).

      Unter „Beeinträchtigung“ versteht Bach die Erschwerung der Personalisation und Sozialisation eines Menschen. Gekennzeichnet ist sie objektiv durch Unregelhaftigkeiten in den Bereichen des Erziehungsprozesses. Liegt diese objektive Feststellung noch nicht vor, spricht man von „Auffälligkeit“.

      Gegenstand der Inklusionspädagogik nach Sander Sander (2003) baut seine Gegenstandsbestimmung von Inklusionspädagogik auf einer Gegenstandsbestimmung von Integrationspädagogik auf. Gegenstand der Integrationspädagogik ist nach ihm „die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung nichtbehinderter und behinderter Kinder und Jugendlicher“ (313). Er plädiert für ein über Integration hinausgehendes Verständnis von Inklusion und definiert:

      Gegenstand der Inklusionspädagogik ist … die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung aller Kinder und Jugendlicher mit welchen pädagogischen Bedürfnissen auch immer (a.a.O).

      Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik Folgt man der gedanklichen Kette, dass die Hörgeschädigtenpädagogik ein Teilgebiet der Sonderpädagogik und der sich aus ihr entwickelnden Inklusionspädagogik ist und diese wiederum ein Teilgebiet der Pädagogik sind, so sind der Hörgeschädigtenpädagogik deren Gegenstandsbereiche immanent.

      Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass sich Pädagogik, und damit auch die Hörgeschädigtenpädagogik, auf alle Phasen des Lebensalters bezieht. Ein Hörschaden kann zu jedem Zeitpunkt des Lebens eintreten, so z. B. prä- oder perinatal oder als Folge eines Hörsturzes in der Lebensmitte oder auch als Folge des Alterns (Altersschwerhörigkeit). Entsprechend muss auch die Gegenstandsbestimmung der Hörgeschädigtenpädagogik vorgenommen werden.

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      In Anlehnung an die oben genannte Gegenstandsbestimmung von Bleidick könnte man die der Hörgeschädigtenpädagogik folgendermaßen formulieren:

      Der Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik sind die besonderen Bedingungen des Lernens und der sozialen Eingliederung und Inklusion von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Hörschädigung. Für die wissenschaftstheoretische Diskussion ist folgende Überlegung lohnenswert: Bei der Gegenstandsbestimmung der Hörgeschädigtenpädagogik ist die der allgemeinen Pädagogik um die Dimension, die sich aus dem dynamischen Charakter einer Hörbehinderung resp. Hörschädigung ergibt, zu erweitern (Pöhle 1994, 37).

      Unter dem „dynamischen Charakter der Hörbehinderung wird verstanden, dass Auffälligkeiten (z. B. im Verwenden der Sprache oder im sozialen Verhalten) dem Hörgeschädigten nicht wesenseigen sind. Sie haben sich herausgebildet, weil die anatomisch-physiologischen Entwicklungsvoraussetzungen des Hörgeschädigten (z. B. des hörgeschädigten Kindes) und seine Entwicklungsbedingungen einander nicht bzw. nicht hinreichend entsprechen. Da sie jedoch Ergebnis eines Prozesses sind, lassen sie sich auch durch prozessuale, fördernde pädagogische Einwirkungen verändern“ (18).

      Große (2001, 17f) teilt bei seiner Gegenstandsbestimmung die Hörgeschädigtenpädagogik (dort Hörbehindertenpädagogik) in Erkenntnisstufen ein. Die 1. Ebene (=Realbereich) bildet das spezifische erzieherische Handeln mit und für den hörgeschädigten Menschen (=Gegenstand). Auf der 2. Ebene bildet der Realbereich den Gegenstand der gedanklichen Reflexion. Der Mensch mit Hörschädigung ist als konstitutives Element des Bildungs- und Erziehungsprozesses eingeordnet und besitzt als solcher Relevanz. Auf der 3. Ebene ist die Hörgeschädigtenpädagogik als Wissenschaft Gegenstand.

      Der bisher geführten Diskussion soll sich folgende Überlegung anschließen: Die Hörgeschädigtenpädagogik sieht nicht die eingeschränkte, veränderte oder im Extremfall ausgefallene auditive Perzeption als ihren Gegenstand, sondern die bestehenden Entwicklungspotenziale. Die folgende Gegenstandsdefinition für die Hörgeschädigtenpädagogik dürfte heute weitgehende Zustimmung finden:

      

Hörgeschädigten pädagogik

      Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik ist das Gewährleisten einer allumfassenden und uneingeschränkten Entwicklung Hörgeschädigter durch hörgeschädigtenspezifische Bildung, Erziehung, Förderung und (Re-)Habilitation.

      Rehabilitation meint hier einen interdisziplinär angelegten Prozess, der die Auswirkungen der Hörschädigung auf das Leben der Betroffenen mindern will. Habilitation leitet sich vom Verb habilitare ab und bedeutet jemand befähigen, geschickt oder geeignet machen.

      Die Hörgeschädigtenpädagogik will von ihrem Selbstverständnis her nicht nur beschreibend, sondern gegebenenfalls auch gestaltend tätig sein. Damit verfügt sie gleichermaßen über einen allgemeinen wie auch angewandten Wissenschaftszweig.

      Forschung und Praxis der Hörgeschädigtenpädagogik akzentuierten in den vergangenen Jahren vor allem den hörgerichteten Spracherwerb und die bilinguale Erziehung, aktuell wenden sie sich eher Fragen der inklusiven Beschulung insbesondere unter den Aspekten der Beschulung lautsprachlich und gebärdenprachlich kommunizierender Schüler zu (Leonhardt 2018a).

      Alle sonderpädagogischen Teildisziplinen sind auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, insbesondere aber die Pädagogiken der Sinnesbehinderten (also die Hörgeschädigtenpädagogik und die Sehgeschädigtenpädagogik). Gleichsam werden sie von „außen“ (also von anderen Wissenschaftsdisziplinen oder von allgemeinen bildungspolitischen Bestrebungen) beeinflusst und zu neuen Denkansätzen veranlasst. Beispielhaft seien für die vergangenen Jahre Forschungsergebnisse aus der Linguistik über die Gebärdensprache und Entwicklungen im Rahmen der HNO-Heilkunde im Zusammenhang mit den Cochlea Implantationen genannt. Für die aktuellen Entwicklungen sind vorrangig die bildungspolitischen Bemühungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hervorzuheben.

      Weiterführende Literatur zur Theoriebildung der Sonderpädagogik: – Biewer (2017): Grundlagen der Heilpädagogik – Bleidick (1974): Pädagogik der Behinderten – Bleidick (1998): Einführung in die Behindertenpädagogik, Band I. – Bleidick (1999): Behinderung als pädagogische Aufgabe – Dederich et al. (2016): Handlexikon der Behindertenpädagogik – Haeberlin (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. – Hedderich et al. (2016): Handbuch der Inklusion und Sonderpädagogik. – Kobi (2004): Grundfragen der Heilpädagogik. – Moser / Sasse (2008): Theorien der Behindertenpädagogik. – Speck (2008): System Heilpädagogik. – Für einen allgemeinen Überblick über die Sonderpädagogik bietet sich an: Klauer (1992): Grundriß der Sonderpädagogik.

      

Aufgabe 1

      Warum sind möglichst exakte Begriffsbestimmungen (z.


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