Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt

Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik - Annette Leonhardt


Скачать книгу
zu befähigen, sich durch eigenes aktives soziales Tätigsein zu verwirklichen, ihre Identität zu finden und sich sozial zu integrieren. Da Integration als wechselseitiger (hier: zweiseitiger) Prozess anzusehen ist, müssen die Hörenden zur Integration der Hörgeschädigten beitragen. Wenn das gesellschaftlich angestrebte Ziel der Inklusion erreicht ist, haben sich die Strukturen den individuellen Bedürfnissen angepasst. Das, was aktuell in den Schulen vorgefunden wird, ist (noch) Integration (Leonhardt 2011a), obwohl von Inklusion und inklusiven Schulen gesprochen wird. Als Teilziele der Hörgeschädigtenpädagogik werden – unter Beachtung der subjektiven Voraussetzungen – des Weiteren angesehen:

      – das Erwerben einer umfassenden Bildung;

      – die Entwicklung und Ausformung ihrer Persönlichkeitsqualitäten, um ihnen eine uneingeschränkte Teilnahme und Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu ermöglichen;

      – die Entscheidungskompetenz des Hörgeschädigten, in welcher der sozialen Gruppierungen er leben möchte (in der lautsprachlich geprägten Gemeinschaft Hörender, in der vorwiegend gebärdensprachlich kommunizierenden Gemeinschaft der Gehörlosen, inmitten der Gruppe von Schwerhörigen oder auch durch einen häufigeren Wechsel seiner Bezugssysteme in Abhängigkeit seines jeweils aktuellen Bedürfnisses oder Anliegens).

      Hauptziel: Kommunikative Kompetenz Das Hauptziel der Hörgeschädigtenpädagogik ist, dem Hörgeschädigten (unabhängig von Art und Ausmaß des Hörschadens) den Erwerb kommunikativer Kompetenzen zu ermöglichen. Damit wird es ihm möglich, sprachliche Interaktionen durchzuführen und sich mit Gesprächspartnern dialogisch zu verständigen. Das Erwerben einer kommunikativen Kompetenz ist letztendlich Voraussetzung für das Erreichen und Verwirklichen aller anderen (bereits genannten) Zielaspekte. Ohne eine angemessene sprachliche, kommunikative und soziale Kompetenz ist weder das Aneignen kultureller Werte, noch die Ausformung seiner Persönlichkeit, noch die selbstständige, von äußerer Hilfe unabhängige Lebensführung (z. B. zur Absicherung der Existenz) möglich.

      Die Frage nach dem Gegenstand einer Wissenschaft läuft darauf hinaus zu kennzeichnen, womit sich diese Wissenschaft beschäftigt. Die Antwort sollte möglichst in Form einer Definition gegeben werden.

      Der Kennzeichnung des Gegenstandes der Hörgeschädigtenpädagogik soll, in Anlehnung an das Vorgehen im letzten Kapitel, zunächst die Bestimmung des Gegenstandes der (Allgemeinen) Pädagogik, der Sonderpädagogik und dann der Inklusionspädagogik vorangestellt werden.

      Eine Literaturanalyse hat ergeben, dass es offensichtlich im Rahmen der Pädagogik schwierig ist, eine Gegenstandsbestimmung zu formulieren, die eine weitgehende Zustimmung der Vertreter der oft sehr unterschiedlichen Richtungen und Strömungen innerhalb der Pädagogik findet. So belassen es Kron et al. (2013, 18ff) bei einer Aufzählung und teilweisen Beschreibung von 11 Gegenstandsbereichen der Pädagogik. Auch die recht umfängliche Bestimmung des Begriffs „Pädagogik“ im Band 2 des Nachschlagewerkes „Pädagogische Grundbegriffe“ (hrsg. von Lenzen 1989) lässt eine direkte Gegenstandsbestimmung aus. Eine konkrete Formulierung ist auch nicht bei Lassahn (2000) und Schröder (1992) zu finden.

      Vermutlich beruhen die Schwierigkeiten einer Fassung des Gegenstandsbereiches darauf, dass die (Allgemeine) Pädagogik sich in zahlreiche, mehr oder weniger eigenständige, Subdisziplinen aufgegliedert hat, die wiederum für sich einen relativ abgrenzbaren Gegenstandsbereich reklamieren.

      Im Gegensatz dazu herrscht jedoch beispielsweise in der Psychologie trotz ihrer unterschiedlichen Schulen und Teilgebiete ein weitgehender Konsens darüber, was der Gegenstand des Faches ist (Zimbardo / Gerrig 2004, 3).

      Nachfolgend wird die Gegenstandsbestimmung für die Allgemeine Pädagogik von Keßler / Krätzschmar (1993, 3 und 5) vorgestellt, die für weitere Überlegungen geeignet erscheint:

      

Allgemeine Pädagogik

      Die Allgemeine Pädagogik beschäftigt sich mit übergreifenden Fragestellungen, erforscht das Wesen pädagogischer Prozesse, und sie erfasst die historischen Dimensionen erziehungswissenschaftlicher Inhalte. Sie reflektiert gesellschaftliche, philosophische und anthropologische Ursprünge und Grundlagen in ihrem Gegenstandsbereich.

      Die Gegenstandsbestimmung für Sonderpädagogik scheint ähnlich schwierig zu sein – vgl. Bleidick 1974, 192 – 207; Gerspach 1989, 73 – 88; Marx 2001, 1394 – 1396; Kobi 2004, 127 – 135; Bach 1995, 11 und Haeberlin 1998, 25 – 44. Bedingt scheint das durch den jeweiligen theoretischen Ansatz und die darauf aufbauenden Überlegungen. Nachfolgend sollen zwei der genannten vorgestellt werden:

      Gegenstand der Behindertenpädagogik nach Bleidick Bleidick (er verwendet den Begriff Behindertenpädagogik) sieht das sonderpädagogische Gegenstandsgebiet in den drei Gegenstandsfeldern

      ■ Behinderung,

      ■ Behinderung der Erziehung,

      ■ Erziehung der Behinderten.

      Die drei aufeinander bezogenen Inhalte des Gegenstandes werden wie folgt gefasst:

      1. Bei der Bestimmung des Begriffs Behinderung wird von einer pädagogischen Systematik ausgegangen. Es wird sich also auf jene eingeschränkt, die pädagogisch relevant sind, „d. h. die sich als Behinderungen des Erziehungsgeschäfts erweisen und der besonderen Erziehung der von ihnen Betroffenen bedürfen“ (1974, 193).

      2. Behinderung der Erziehung. Die Behinderung schlägt sich als eine intervenierende Variable der Erziehung nieder. Es liegt eine „Störung der Bildsamkeit“ (Bildungsbehinderung) vor.

      3. Erziehung der Behinderten. Angesichts der Beeinträchtigungen des Bildungsprozesses ist es notwendig, auf diese Erschwerung der Erziehung „einzugehen“. Dies ist mit den üblichen Mitteln der Pädagogik nicht zu leisten. Die Erziehung der Behinderten ist „besondere Erziehung“, Sondererziehung (1974, 193).

      In späterer Literatur von Bleidick (1998, 27 – 29) ist die Begrifflichkeit und damit die Formulierung entsprechend der allgemeinen Entwicklung aktualisiert. Der wissenschaftliche Grundgedanke bleibt aber erhalten.

      Der Begriff der Behinderung ist für die Pädagogik der Behinderten zentrales Bestimmungsmoment. Bildlich gesprochen „unterbricht“ die Behinderung zunächst den Vorgang der Erziehung. Bleidick beschreibt das an Beispielen:

      „Der blinde Schüler kann die Tafel nicht sehen, auf der der Lehrer für die übrigen Schüler der Klasse etwas anschreibt. Der Gehörlose ist im buchstäblichen Sinne nicht ,ansprechbar’. Der Geistigbehinderte besitzt nicht die Aufnahmefähigkeit, die für das Erlernen bestimmter Kulturfunktionen erforderlich erscheint“ (27).

      Der Kerngedanke des Behinderungsbegriffs wird darin gesehen, dass Behinderung eine „intervenierende Variable des Erziehungsvorgangs“ ist.

      „Gemeint ist damit, dass die Behinderung die Lernbedingungen in entscheidender Weise verändert. Aus diesem Sachverhalt bezieht die Sondererziehung ihren Auftrag. Mit der Erschwerung des Lerngeschehens soll nämlich nicht gesagt sein, dass ein Defekt, ein Mangel, eine funktionelle Störung die Ziele der Erziehung und des Unterrichts dauerhaft verstellen oder ihr Erreichen unmöglich machen. Man kann das so definieren: Ein pädagogischer Begriff von Behinderung liegt dann vor, wenn sich der Educandus aufgrund seiner Behinderung nicht mit den ,üblichen‘ Mitteln erziehen und unterrichten lässt und spezieller, ,besonderer‘ pädagogischer Verfahrensweisen bedarf“ (28).

      Unterricht und Erziehung sind erschwert; sie unterliegen besonderen Bedingungen. Erziehung i. w. S. meint die Zusammenfassung aller beeinflussenden Maßnahmen, mit denen Ältere auf Jüngere als noch zu Erziehende einwirken. „Behinderung als intervenierende Variable des Erziehungsvorgangs bezeichnet … die Gesamtveränderung der pädagogischen Förderung“ (28). Erziehung i. e. S. ist gemeint, wenn Unterricht und Erziehung gegenübergestellt werden:

      „Unterricht meint hier den Bildungsvorgang, der im engeren Sinne als Lernen umschrieben wird. Erziehung meint die Führung zur Mündigkeit, womit soziale Selbstständigkeit und soziale Eingliederung gemeint sind“


Скачать книгу