Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt
Bereits am nächsten Tag konnte Frau J. ohne größere Schwierigkeiten aufstehen.
Schon eine Woche nach der Operation wurde der Sprachprozessor das erste Mal kurz ausprobiert, um zu wissen, ob das Implantat funktioniert. Frau J. beschreibt ihren ersten Höreindruck so: „Es war für mich ein unglaubliches (beeindruckendes) Erlebnis, ganz alltägliche Geräusche zu erkennen und zuordnen zu können. Z. B. das Klingeln eines Telefons oder das Plätschern von fließendem Wasser aus dem Wasserhahn. Ich war überwältigt – das hatte ich nicht erwartet. Nach einer halben Stunde musste ich das Gerät dann leider wieder abgeben, da der Heilungsprozess vor Dauereinsatz des CIs weiter fortgeschritten sein sollte.“
Die eigentliche Anpassung des Sprachprozessors erfolgte ca. vier Wochen nach der Operation.
Ein halbes Jahr nach der Implantation und der Sprachprozessoranpassung beschrieb Frau J. ihr Hören so: „Ich habe die letzten fünf Jahre vor der Operation weniger gehört als jetzt, Vogelgezwitscher, Signaltöne meines Autos, wenn der Sicherheitsgurt nicht geschlossen ist – das alles hörte ich schon lange nicht mehr. Aber jetzt.
Ich konnte mich noch gut erinnern, wie die Geräusche klangen, das kam mir bei der Gewöhnung an das CI zugute.
Als ich das CI neu bekam, klang eine menschliche Stimme etwa so wie eine Computer-Stimme. Ein bisschen künstlich, höher im Ton – aber doch verständlich. Vereinfacht wurde mir das Verstehen durch das Absehen. Je länger ich das CI trage, um so natürlicher erscheinen mir die Geräusche und die Sprache.
Zu Beginn schienen mir die Geräusche bei viel höheren Frequenzen aufzutreten, als ich in Erinnerung hatte, z. B. im Straßenverkehr. Er schien eher zu pfeifen, zu quietschen und zu kreischen als zu brummen. Auch ein Lastwagen dröhnte nicht, sondern kreischte / zwitscherte wie eine streitende riesige Vogelschar. Inzwischen klingt dies aber alles so, wie ich es von früher her kenne.
Musik klingt dagegen immer noch sehr konfus. Ich habe mich darauf eingestellt, dass es länger dauert, bis ich damit zurecht komme. Musikstücke mit nur einem Instrument sind einfacher zu erkennen als ein von einem Orchester gespieltes Stück. Es ist mir jedoch schon gelungen, am Rhythmus und anhand einiger Töne ,The Yellow Submarine’ von den Beatles aus dem Radio zu identifizieren. Nachdem ich früher Klavierunterricht hatte, probierte ich natürlich auch aus, wie Klaviertöne mit dem CI klingen. Zunächst glaubte ich, dass mein Klavier verstimmt sei. Der einzelne Ton klingt auch nicht ganz rein. Ich bin jedoch optimistisch, dass es nach einiger Gewöhnungszeit immer besser klappen wird.
Telefonieren kann ich heute schon. Dass ich dazu in der Lage bin, gibt mir sehr viel Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, Gelassenheit, die ich jahrelang vermisste.“
Wie hat sich das Leben für Frau J. – fünf Jahre nach der Implantation – verändert? Sie beschreibt es folgendermaßen:
„Vieles ist leichter geworden. Ich fühle mich gelassener, habe mehr Lebensmut, bin zuversichtlicher, fröhlicher und belastbarer als vorher. Es ist für mich ungeheuer befreiend, dass ich nun nicht mehr soviel um Hilfe bitten muss, sondern selber anderen auch helfen kann. Mein neues Selbstbewusstsein bereitete bisher niemandem Probleme. Beispielsweise kann ich telefonieren, um Termine mit dem Friseur, dem Arzt oder mit Freunden zu vereinbaren. Eigentlich Selbstverständlichkeiten für Normalhörende, aber ein Problem für stark Schwerhörige und Ertaubte.“
Frau J. ist in einem pharmazeutischen Unternehmen in der Entwicklung von Diagnostischen Einsatzstoffen tätig. Hier arbeitete sie auch schon vor ihrer Implantation. Diese Arbeitsstelle erfordert viel mündliche Kommunikation, z. B. um Arbeitsvorgänge zu besprechen oder Ideen in Diskussionen mit Kollegen und Mitarbeitern entwickeln zu können. Sie sieht ihre Situation heute so:
„Mit dem Implant kann ich einfach aktiver und spontaner reagieren und auch aktiver an Diskussionen / Gesprächen teilnehmen. Besonders erleichternd ist, dass ich nun vieles telefonisch regeln kann, was früher nur umständlich über Umwege (Auftragstelefonat, Fax, Brief) möglich war.
Die Kommunikation ist für alle leichter geworden, deshalb ist das CI nicht nur für mich, sondern für alle Menschen in meiner Umgebung ein Gewinn“ (nach einem gemeinsamen Gespräch der Autorin mit der CI-Trägerin).
Aus den fünf sehr unterschiedlichen Beschreibungen wird ersichtlich, dass die Auswirkungen und das individuelle Erleben, „hörgeschädigt zu sein“, sehr verschieden sein kann. Sie machen zugleich deutlich, dass die Bezeichnung „hörgeschädigt“ begrifflich unterschiedliche Störungen des Hörorgans zusammenfasst. Darüber hinaus weist praktisch jeder Hörgeschädigte hinsichtlich seines Hörschadens und seiner kommunikativen Situation individuelle Unterschiede und Auffälligkeiten auf.
Reflektiert man einmal darüber, wie oft uns Menschen mit einer Hörschädigung begegnen, müssen wir alsbald zu dem Schluss kommen, dass es weit häufiger geschieht, als es auf den ersten Blick scheint: Im täglichen Leben begegnen uns immer wieder Menschen, die Schwierigkeiten haben, Lautsprache zu verstehen. Manche von ihnen fallen durch unangemessen lautes, andere durch schlecht verständliches oder unverständliches Sprechen oder auch gehäuftes Nachfragen auf. Einige von ihnen tragen Hörgeräte, die durch die Weiterentwicklungen der letzten Jahre inzwischen so klein sind, dass sie für andere kaum noch sichtbar sind. Schließlich begegnen wir auch Menschen, die sich nicht lautsprachlich, sondern durch Gebärdensprache verständigen.
Darüber jedoch, was eingeschränktes Hören oder „Nicht-hören-Können“ für die Betroffenen tatsächlich bedeutet und wie es ihr Leben beeinflusst, sagen die äußerlich auffälligen Merkmale kaum etwas aus. Was dem Hörenden und nicht Sachkundigen auffällt, sind lediglich Symptome. Die eigentliche „Behinderung“ liegt in den inneren psychischen Bedingungen. Sie ergibt sich aus den erheblich veränderten, beeinträchtigten und den teilweise gestörten zwischenmenschlichen Kontakten und Beziehungen. Sehr bekannt ist das Zitat von Immanuel Kant (1724 – 1804):
„Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen“ (Zitate von Immanuel Kant, o. J.).
Vielleicht kann dieses Zitat die erheblichen Auswirkungen eines eingeschränkten oder ausgefallenen Gehörs verdeutlichen. Insbesondere unterliegt der zwischenmenschliche Kontakt wesentlichen Veränderungen und auch Einschränkungen. Pöhle schätzt die Situation Hörgeschädigter folgendermaßen ein:
„Taubheit bzw. hochgradige Schwerhörigkeit und das Unvermögen, sich laut-(Anm. d. Verf.) sprachlich ungehindert äußern zu können, sind für Nichtbehinderte praktisch nicht vorstellbar; deshalb wird auch kaum eine Behinderung hinsichtlich ihrer psychischen Belastung so sehr unterschätzt wie eine Hörbehinderung; und es gibt wohl keine Gruppe behinderter Menschen, die in so krasser Weise Fehlbeurteilungen unterliegt wie Hörbehinderte“ (1994, 1).
Zusammenfassung
Die Fallbeschreibungen vermitteln Informationen über Personen mit sehr unterschiedlichen Hörschädigungen. Sie machen deutlich, dass die Bezeichnung „hörgeschädigt“ sehr verschiedene Störungen des Hörorgans zusammenfasst. Darüber hinaus weist praktisch jeder Hörgeschädigte hinsichtlich seines Hörschadens und den daraus resultierenden Auswirkungen individuelle Unterschiede und Auffälligkeiten auf.
Frage zum Einstieg:
Reflektieren Sie die fünf Fallbeschreibungen. Welches Fazit können Sie in Bezug auf Hörschäden daraus ableiten?
2 Ziel und Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik
2.1 Pädagogische Kennzeichnung von Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit und Ertaubung
Schwerhörige, gehörlose oder ertaubte Personen sowie Personen nach der Versorgung mit einem Cochlea Implantat (CI) – von sich selbst auch als ‚CI-Träger’ bezeichnet – bilden die Gruppe der (peripher) Hörgeschädigten. Ihnen gemeinsam ist die Minderung oder (in selteneren Fällen) der Ausfall des Hörvermögens.
Zum Aufgabenbereich der Hörgeschädigtenpädagogik gehören seit Ende des letzten Jahrtausends auch Schüler mit Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen