Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt

Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik - Annette Leonhardt


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die durch eine Therapie mit Antibiotika behandelt wurde. Wahrscheinlich ist durch diese antibiotische Behandlung das Innenohr beidseits geschädigt worden. In der Universitätsklinik W., in der Matthias auf die Welt kam, wurde damals bei allen Neugeborenen bereits eine BERA durchgeführt, obwohl das Neugeborenenhörscreening zu dieser Zeit noch nicht verpflichtend war. Er war in der Untersuchung auffällig, die Verdachtsdiagnose einer hochgradigen Schwerhörigkeit wurde gestellt.

      Im Alter von gut vier Monaten fand eine Untersuchung in Narkose statt und die Verdachtsdiagnose bestätigte sich. Matthias war hochgradig schwerhörig, an Taubheit grenzend.

      An diesem Tag ging für meinen Mann erst einmal die Welt unter. „Wie wird das mit der Schule, der Ausbildung, dem Studium, der Arbeit, dem Leben für ihn?” Er dachte in ganz anderen Dimensionen als ich. Aber wir hatten viel Glück im ‚Unglück’. Wir waren in der HNO-Universitätsklinik W. sehr gut aufgehoben. Die Vernetzung zur Frühförderstelle für Hörgeschädigte war ausgezeichnet und wir bekamen dort zeitnah einen Termin. Matthias erhielt seine ersten Hörgeräte. Unsere ‚Frühförderin’ war wieder ein Glückstreffer! Sie hat uns vor allem in den ersten Monaten in unserem normalen Umgang mit Matthias bestärkt und Hilfestellungen gegeben. Er hat sich trotz der Hörschädigung zu einem äußerst fröhlichen und aufgeweckten (im wahrsten Sinne des Wortes) Säugling entwickelt. Im Alltag, der Frühförderung und den Hörtests in der Pädaudiologie hat sich dann schon relativ schnell gezeigt, dass er nicht ausreichend von den Hörgeräten profitieren konnte. Wir wurden über die verschiedenen Möglichkeiten, u. a. eine Versorgung mit Cochlea Implantaten (CI) informiert. Für diese Möglichkeit haben wir uns dann relativ schnell entschieden. Im Alter von gut acht Monaten erhielt Matthias sein erstes CI, was damals noch eher ungewöhnlich war. Die nächsten sechs Wochen waren geprägt von erwartungsvoller Unruhe, dann war der große Tag der Erstanpassung des Sprachprozessors gekommen: der ‚Anschluss an die akustische Umwelt‘. Das war für uns ein unvergesslicher Moment! Das CI wurde eingeschaltet, Matthias hob den Kopf und schaute erstaunt. Er hat das CI von da an am Kopf belassen, war aufmerksam bei den Anpassungen und begeistert von seinem ‚geräuschvollen‘ Alltag, vor allem aber von der Frühförderung. Die Sprachentwicklung verlief rasant. Nach ein paar Wochen das erste bzw. die ersten Wörter: ‚Dreht sich‘. Dann kam eigentlich fast täglich ein neues Wort, schnell kleine Sätze, zum Teil schneller als bei gleichaltrigen Normalhörenden. Etwa zeitgleich begann die Rehabilitationsmaßnahme im CIC in W. Anfangs war er in einer Gruppe mit lauter Kindergarten- und Schulkindern. Kleinkinder mit CIs gab es damals noch kaum.

      Ein halbes Jahr nach der ersten CI-Operation sollte die OP auf der anderen Seite folgen. Intraoperativ stellte sich jedoch heraus, dass Matthias eine versteckte Mastoiditis (Entzündung des Warzenfortsatzes) hatte und die Implantation zunächst nicht erfolgen konnte. Knapp ein Jahr nach seinem ersten CI erhielt er dann sein zweites. Unsere Rehagruppe verjüngte sich, es waren endlich mehr Gleichaltrige wie Matthias mit CIs versorgt.

      Aus beruflichen Gründen mussten wir zu Beginn der Kindergartenzeit unsere gewohnte Umgebung und unser gutes Netzwerk hinsichtlich der Versorgung von Matthias verlassen. Der Kindergarten in unserem neuen Wohnort war bereit, ihn als ‚Integrationskind‘ aufzunehmen und es hat wunderbar geklappt. Die Frühförderung lief in größeren Abständen weiter, ebenso die Reha in W. Die regelmäßigen Treffen mit ‚Gleichgesinnten‘ und Betroffenen war und ist für ihn genauso wie für mich sehr wichtig. Freundschaften sind entstanden.

      Wermutstropfen waren eine notwendige Revisionsoperation und häufige Ausfälle des Sprachprozessors bzw. der externen Technik. Nach dem Kindergarten wurde er in die allgemeine Grundschule bei uns im Wohnort eingeschult.

      Zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichtes konstatiert die Mutter: Durch die frühe CI-Versorgung ist ihm (und uns) mittlerweile ein weitgehend ‚normales‘ Leben ermöglicht worden. Matthias geht offensiv und selbstbewusst mit seiner Hörschädigung um.

      Fallbeschreibungen über Erwachsene mit Hörschädigung:

      Fallbeschreibung 4: Frau X, Mitglied eines Schwerhörigenkreises, schwerhörig

      Sie berichtet: „Wie es mir als Schwerhöriger in einem Wartezimmer erging. Heftige Schmerzen im Kopf zwangen mich, den Arzt aufzusuchen. Das linke Ohr war durch eine Erkältung fast taub, am rechten trage ich eine Hörhilfe. Da ich mich auf diese nicht völlig verlassen kann …, schrieb ich alle Beschwerden auf einen Zettel, den ich bei der Anmeldung abgab. Dem Schalter gegenüber nahm ich Platz. Wenn dem Aufruf niemand folgte, fragte ich den Patienten neben mir, ob mein Name gefallen sei. Ich sei noch nicht dran, wurde mir entgegnet. Nach fast drei Stunden vergeblichen Wartens ging ich gleich den anderen für eine knappe Stunde nach Hause, um das Mittagessen anzusetzen; 15 Patienten waren noch vor mir. Als ich zurückkam, waren es noch fünf. Diese wurden nacheinander aufgerufen, zwei nach mir Angemeldete folgten, worauf ich im Sprechzimmer fragte, ob meine Karte verlegt sei. Fünfmal sei ich aufgerufen worden, aber niemals gekommen, sagte der Doktor vorwurfsvoll. Ich entschuldigte mich, dass ich den Aufrufen nicht gefolgt sei, und wies auf meine schriftliche Mitteilung hin.

      Einer Sehschwachen gegenüber wären die Patienten wohl hilfsbereiter gewesen als mir, der Schwerhörigen. Ähnliches geschieht täglich und stellt unser Vertrauen zu gesunden Menschen auf eine harte Probe“ (aus: Fink 1989, 13f).

      Fallbeschreibung 5: Martina J., CI (Cochlea-Implantat)-Trägerin, promoviert, tätig in einem großen pharmazeutischen Unternehmen

      Frau J. war von Geburt an schwerhörig. Die Ursachen dafür sind unbekannt. Mit 7 Jahren erhielt sie ihr erstes Hörgerät, was aus heutiger Sicht als sehr spät einzuschätzen ist. Mit Hilfe ihrer Mutter, die sich sehr um ihr Kind bemühte, lernte sie gut und verständlich sprechen und wurde trotz ihrer Schwerhörigkeit altersgemäß in eine allgemeine Schule am Wohnort eingeschult.

      Es stellte sich bald heraus, dass die Schwerhörigkeit progredient verlief. Dies konnte zunächst durch neue, leistungsstärkere Hörgeräte, die ca. alle 4 – 5 Jahre angepasst wurden, ausgeglichen werden. Im Schulalter nahm Frau J. die fortschreitende Schwerhörigkeit noch nicht bewusst wahr oder – so beschreibt sie es aus heutiger Sicht – sie wurde von ihr ignoriert, da sie so sein wollte, wie die anderen Kinder ihrer Klasse auch.

      Trotz ihrer erheblichen Hörprobleme konnte Frau J. erfolgreich das Abitur ablegen, studieren und promovieren. Ab ihrem 30. Lebensjahr bekam Frau J. regelmäßig alle 2 – 3 Jahre Hörstürze, bei denen sich jedesmal ihr Gehör gravierend verschlechterte. Diese ca. 10 – 12 Jahre andauernde Phase endete mit einem weiteren Hörsturz, in dessen Folge sie auditiv kaum noch etwas wahrnehmen konnte. Ihr selber war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass sie „taub“ geworden war. Mit Hilfe ihrer sehr leistungsfähigen Hörgeräte konnte sie noch immer einige tiefe Töne und Signale erfassen, was sie damals als „hören“ interpretierte und aus heutiger Sicht als ein „Kitzeln am Trommelfell“ beschreibt.

      Bereits vor ihrer endgültigen Ertaubung hatte Frau J. vom „Cochlea Implantat“ gehört. Sie glaubte jedoch, dass man absolut taub sein müsse, ehe eine Implantation in Frage kommt. Nach näheren Erkundungen stellte sich heraus, dass bei Frau J. eine Implantation sinnvoll zu sein schien, und so ließ sie sich, etwa 13 / 4 Jahre nach der Ertaubung, implantieren. Als Gründe für ihre Entscheidung gibt sie an: „Ich wollte die Isolation, in die ich durch meine Ertaubung geraten war, nicht bedingungslos ertragen und war bereit, einen Versuch und auch ein Risiko einzugehen, um meine Lage zu ändern. Ich spürte als Ertaubte nicht nur meine eigenen Probleme, sondern auch die Probleme, die die Normalhörenden in meiner Umgebung (Familie / Freunde und Kollegen) mit mir hatten.

      Ich konnte schon immer relativ gut absehen – das erforderte jedoch nach meiner Ertaubung ständige höchste Aufmerksamkeit, da die Kommunikation fast ausschließlich über ,Sehen’ erfolgte. Klar, dass bei dieser Anspannung und Dauer-Konzentration die Achtsamkeit mal nachließ. Entsprechend mühsam wurde infolgedessen dann die Kommunikation mit mir, wenn ich müde wurde. Absehen allein funktioniert auch nur gut im Zweiergespräch. Wenn mehrere Personen an der Unterhaltung teilnehmen, ist der Faden


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