Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt

Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik - Annette Leonhardt


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noch immer recht schwierig, auf Literatur zu stoßen, die nicht oder kaum auf Vorwissen aufbaut. Hier besteht ein Mangel! Eine Ausnahme bildet das Buch von Wisotzki: „Grundriß der Hörgeschädigten pädagogik“ (1994). Ergänzend sei noch auf Pöhle: „Grundlagen der Pädagogik Hörbehinderter“ (1994) verwiesen, das jedoch als Studientext der Universität Potsdam keine Verbreitung über den Buchhandel erfährt.

      Das vorliegende Buch soll der konzipierten UTB-Reihe gemäß einen Überblick über das Fachgebiet geben. Sein Inhalt konzentriert sich auf Themen, die für die Hörgeschädigtenpädagogik in einer gewandelten Wirklichkeit grundlegend wichtig sind und aktuelle Anforderungen und Herausforderungen für sie darstellen. Es ist der Versuch einer zusammenfassenden Beschreibung, die theoretische Positionen ebenso wie Aspekte der praktischen Arbeit einschließt. Gleichzeitig wird die Absicht verfolgt, das Spezifische in der (sonder-)pädagogischen Arbeit mit Hörgeschädigten zu kennzeichnen. So soll jedem Leser zugleich eine grundlegende Orientierung über die Tätigkeit eines Hörgeschädigtenpädagogen gegeben werden. Durch die neuen Entwicklungen, u. a. im Bereich der Pädoaudiologie, der Cochlea Implantat-Versorgung, der Spracherwerbsforschung und der Linguistik, kristallisieren sich heute neue Aufgabenfelder für die Hörgeschädigtenpädagogen heraus. Sie verlassen mehr und mehr die traditionelle Rolle als Lehrer einer Gehörlosen- und Schwerhörigenschule und finden sich in Bereichen wie der Frühförderung, der mobilen Dienste sowie der vor-, neben- und nachschulischen Betreuung wieder. Auch die Andragogik und die Gerontologie sind Gebiete, die hörgeschädigtenspezifisches Wissen erforderlich machen – sei es in der bisher noch zu sehr vernachlässigten Weiterbildung hörgeschädigter und ertaubter Berufstätiger oder in der Arbeit mit Senioren, die der pädagogischen Unterstützung bedürfen, um die sozialen Folgen ihrer häufig erst im höheren Alter eingetretenen Hörschädigung zu bewältigen und weiterhin ein sinnerfülltes Leben zu führen.

      Die Hörgeschädigtenpädagogik befindet sich gegenwärtig (noch immer) – wie keine andere sonderpädagogische Fachrichtung – in einem Spannungsfeld der Meinungen und Auseinandersetzungen, deren Polarisierung sich (optimistisch gesehen) gerade etwas „aufzuweichen“ beginnt. Um dieses Spannungsfeld und die Hintergründe, die dazu geführt haben, verständlicher werden zu lassen, schien es geboten, die historische Entwicklung vergleichsweise umfänglich aufzubereiten. Eine spezifische Diskussion kann jedoch nur im Rahmen von wissenschaftlichen Fachbeiträgen geführt werden, die die Ebene einer „Einführung“ verlassen hat.

      Das Bestreben, die Teilaspekte des Fachgebietes möglichst in ihrer Gesamtheit zu erfassen, und andererseits die Notwendigkeit, sich hinsichtlich des Umfanges auf ein vertretbares Maß zu begrenzen, erlauben nicht, auf Detailfragen einzugehen. Hier sei auf ergänzende und fortführende Literatur verwiesen.

      Die Entstehung eines Buches bedarf stets der Zusammenarbeit mit Helfern im Hintergrund: Danken möchte ich Frau Hannelore Raudszus. Sie übernahm, wie schon so oft, die schreibtechnische Herstellung des Manuskripts. Ihre Ausdauer und ihre Geduld scheinen stets unerschöpflich. Immer behält sie den Überblick und ist gleichermaßen „Seele und Motor“ unseres gemeinsamen Vorhabens. Frau Cornelia Kapfhammer, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München, erwies sich als unermüdliche Helferin bei den Literaturrecherchen. Ihr sei herzlich gedankt dafür! Von der Bibliothek für Hör- und Sprachgeschädigtenwesen, Leipzig, möchte ich Frau Leichter, Herrn Müller und Herrn Winkler danken. Ebenso sei Frau Hildegard Wehler vom Verlag für die zuverlässige und so wichtige Verlagsarbeit gedankt. Danken möchte ich ihr aber auch dafür, dass sie mich von Anfang an in die neue UTB-Reihe einbezog. Es war mir eine Freude, hier mitwirken zu können.

      München, im August 1999

      Annette Leonhardt

      Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

      Dieses Lehrbuch soll das notwendige Basiswissen für eine Hörgeschädigtenpädagogik vermitteln. Am Ende jedes Kapitels sind Übungsaufgaben angefügt zur eigenen Lernkontrolle. Ein Glossar ist im Anhang abgedruckt. Zur schnelleren Orientierung wurden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

Definition
Beispiel
Informationsquelle
Übungsaufgaben am Ende der Kapitel

      Online-Zusatzmaterial

      Die Antworten zu den Übungsaufgaben gibt es unter www.utb-shop.de und www.reinhardt-verlag.de.

      1 Wer ist hörgeschädigt?

      Hören ist eine Fähigkeit, deren Bedeutung der Mensch mit einem voll funktionsfähigen Gehör fast immer unterschätzt. Spontan macht sich kaum jemand Gedanken darüber, in welchem Maß die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt beeinträchtigt wird, wenn das Hören ausfällt oder nur eingeschränkt möglich ist. Je länger man jedoch über eingeschränktes oder ausgefallenes Hören nachdenkt, umso mehr wird die Tragweite bewusst: Der zwischenmenschliche Kontakt erlebt erhebliche Beeinträchtigungen; die Kommunikation mit anderen Menschen kann nicht ungehindert ablaufen.

      Für den Normalhörenden ist es in der Regel etwas Selbstverständliches, dass er die Sprache anderer Menschen hören und verstehen kann, dass er sein eigenes Sprechen und Singen zu hören und zu kontrollieren vermag und dass es ihm zu jeder Zeit möglich ist, eine Vielzahl von Klängen und Geräuschen (z. B. Tierlaute, Naturerscheinungen, Warnsignale, Maschinenlärm) wahrzunehmen. Den Wert des Hörens für die Entwicklung eines Menschen erkennt man eigentlich erst dann, wenn die Funktionstüchtigkeit des Hörorgans herabgesetzt oder wenn es gänzlich funktionsuntüchtig ist.

      Einige Fallbeschreibungen sollen erste Informationen bieten und mögliche Auswirkungen illustrieren. Lassen wir – um eine konkrete Anschauung der Situation zu vermitteln – fünf sehr unterschiedliche Beispiele wirken:

      Fallbeschreibung 1: Johannes L., 4;6 Jahre, hochgradig schwerhörig beiderseits

      Johannes kam als erstes Kind nach komplikationsloser Schwangerschaft auf die Welt. Er entwickelte sich zunächst außerordentlich gut. Er war gleichaltrigen Kindern in vielen Entwicklungsschritten überlegen, so konnte J. mit 6 Monaten krabbeln und mit 9 Monaten frei laufen. Er war aufgeweckt und freundlich.

      Mit ca. 9 Monaten begann er zu lallen und babbelte Silben wie „dadada“. Mit 1;6 Jahren sprach er einige (wenige) Wörter, z. B. Auto, hei (heiß), gah (Kran) oder dada (Papa). Sein Wortschatz vergrößerte sich jedoch nicht. So konnte J. mit knapp 2 Jahren noch immer keine weiteren Wörter sprechen. Da J. sich aber in allen anderen Bereichen gut weiterentwickelte, waren die Eltern zunächst nicht beunruhigt und dachten, wie auch Verwandte und Freunde der Familie, dass er zum Sprechenlernen etwas länger brauche.

      Da J. aber auch nicht auf das Zurufen seines Namens reagierte, wurden die Eltern zunehmend verunsichert, und es kam ihnen der Gedanke, dass er vielleicht nicht gut hören könne. Sie stellten J. daraufhin dem Kinderarzt vor, der ihnen zunächst riet, noch ein Vierteljahr abzuwarten und, falls J. dann noch nicht spricht, einen Hörtest machen zu lassen.

      Da J. nach diesen 3 Monaten immer noch nicht mehr sprach, überwies der Kinderarzt die Eltern an die für den Wohnort zuständige Universitätsklinik, um dort einen Hörtest und eine BERA (Hirnstammaudiometrie) durchführen zu lassen.

      Der Verdacht der Schwerhörigkeit bestätigte sich: J. war beidseitig hochgradig schwerhörig.

      J. bekam mit 2;6 Jahren die ersten Hörgeräte. Zeitgleich setzte die Früherziehung mit einer Stunde pro Woche ein.


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