Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt
Schädigung des Gehörs liegt hier nicht vor.
Begriffsbestimmungen von Schwerhörigkeit, Gehörlosigkeit und Ertaubung sind eine wichtige Grundlage für die pädagogische, therapeutische, medizinische und psychologische Versorgung der betroffenen Menschen und damit letztendlich auch für ihre soziale und menschliche Anerkennung in der Gesellschaft, für ihre Rehabilitation und Inklusion.
Die Auffassungen darüber, ob jemand beispielsweise „gehörlos“ oder „schwerhörig“ ist, sind aus der Sicht der Medizin, aus der Sicht der Pädagogik und aus der Sicht der Betroffenen oft abweichend: Aus der Sicht der Medizin wird jede Funktionsstörung des Hörorgans erfasst, während sich die Pädagogik auf solche beschränkt, die die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt beeinträchtigen und damit soziale Auswirkungen auf den Betroffenen haben.
Aus der Sicht eines Teils der Betroffenen wird im Zusammenhang mit der seit den 1980er Jahren stattfindenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Gebärdensprache und der damit verbundenen Emanzipationsbewegung der Gehörlosen versucht, die Begriffe „Gehörlosigkeit“ und „gehörlos sein“ ebenfalls terminologisch zu bestimmen. Ein Mensch mit Hörschädigung kann sich, unabhängig vom Ausmaß der Hörschädigung, selbst als „gehörlos“ definieren, wenn er sich dieser kulturellen Minderheit zugehörig fühlt. Ihre Anknüpfungspunkte sind dabei, dass Gehörlose eine eigene Sprache (die Gebärdensprache) und eine eigene Kultur (in Fachkreisen Gehörlosenkultur genannt) haben. Aus der amerikanischen Literatur ist bekannt, dass „deaf“ bezogen auf das Individuum (also bzgl. der vorhandenen Sinnesschädigung) und „Deaf“ im Sinne der Gemeinschaft und der Minoritätenkultur gebraucht wird (s. auch Padden / Humphries 1991, 10). Die Interessen der Gehörlosen werden verbandsmäßig durch den Deutschen Gehörlosenbund (gegründet 1950 „als Rechtsnachfolger des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands [REGEDE]“) vertreten (Deutscher Gehörlosen-Bund e. V. o. J.).
Ebenso ist eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit der erwachsenen Personen, die mit einem Cochlea Implantat versorgt sind, zu beobachten. Sie versuchen, ihre Interessen und Bedürfnisse durch die bundesweite Deutsche Cochlea Implantat Gesellschaft e. V. (DCIG e. V.), der zeitlich nachfolgenden Gründungen von Regionalverbänden (z. B. in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Berlin-Brandenburg, Bayern und die Hannoversche Cochlea Implantat Gesellschaft e. V.), zahlreiche Selbsthilfegruppen und letztendlich durch die Gründung einer europäischen Vereinigung, der European Association of Cochlear Implant Users (EURO-CIU), zum Ausdruck zu bringen und entsprechende Unterstützung zu finden.
2000 gründete sich der Verein der Lautsprachlich Kommunizierenden Hörgeschädigten Deutschlands (LKHD) nach dem Schweizer Vorbild Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte (LKH). Auch die Mitglieder dieser Gruppe definieren sich selbst – hier als „hörgeschädigt“ –, obwohl nahezu alle Gründungsmitglieder nach der klassischen Einteilung (Kap. 3.2) laut Audiogramm gehörlos, bestenfalls an Taubheit grenzend schwerhörig sind. Ihr Hauptanliegen war es, Menschen mit Hörschädigung eine Integration in die „hörende“ Gesellschaft zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Wesentliche Motivation zur Gründung des Vereins war, dass die Zahl von lautsprachlich kommunizierenden Hörgeschädigten kontinuierlich stieg, diese Tatsache aber in der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen wurde. Sie wollten einen Verein, in dem sich die Betroffenen selbst für die Lautsprache und die Integration in die hörende Gesellschaft einsetzen. Mit der Einführung des universellen Neugeborenenhörscreenings und der deutlich verbesserten Versorgung mit Hörsystemen sahen die Mitglieder der LKHD wesentliche Teile ihrer Forderungen als erfüllt an und wurden (zumindest nach außen) nicht mehr aktiv.
Der DSB (Deutscher Schwerhörigenbund) sieht sich als „bundesweiter Selbsthilfeverband schwerhöriger und ertaubter Menschen“ (Deutscher Schwerhörigenbund o. J.). Er vertritt die Interessen der schwerhörigen Menschen, fühlt sich aber auch für ertaubte Menschen, CI-Träger oder Menschen mit Tinnitus zuständig. Der DSB wurde 1901 in Berlin gegründet und ist damit eine der ältesten Selbsthilfe-Organisationen Deutschlands (a. a. O.).
Außenstehende – gemeint sind hier Personen, die keinen oder nahezu keinen Kontakt zu Menschen mit Hörschädigung haben – verfügen oft über völlig falsche Vorstellungen über „Gehörlose“, „Schwerhörige“ und „Ertaubte“. So stellen sie sich Gehörlose zumeist als Personen vor, die überhaupt keine auditiven Empfindungen haben (also gar nicht hören). Schwerhörige sehen sie oft als Personen, mit denen man sehr laut und überdeutlich sprechen muss. Dass Schwerhörige, bei denen lautes und deutliches Sprechen hilfreich ist, nur eine geringe Anzahl aller Schwerhörigen ausmachen, ist kaum bekannt. Falsch ist auch die Vorstellung, dass ein Hörgerät einen Hörverlust ausgleichen kann. Ein Hörgerät vermag Qualität und Quantität der auditiven Eindrücke wesentlich zu verbessern, es bleibt aber auch bei optimaler Hörgeräteanpassung und -versorgung ein verändertes Hören. Darüber, welche Personen zu den Ertaubten zählen, haben die meisten eine klare Vorstellung, nicht jedoch von den Problemen, die eine Ertaubung für die Betroffenen mit sich bringt.
Tab. 1: Bestimmung des Grades der Behinderung (GdB) aus den prozentualen Hörverlusten beider Ohren (aus: Feldmann 2006,124). Die Eckwerte für die Einstufung sind:
20 % | GdB für einseitige Taubheit |
80 % GdB | für beidseitige Taubheit |
von 20 bis 40 % GdB | für beidseitige mittelgradige Schwerhörigkeit |
von 40 bis 60 % GdB | für beidseitige hochgradige Schwerhörigkeit |
von 80 bis 100 % GdB | für angeborene oder in der Kindheit erworbene Taubheit |
Die Auswirkungen einer Hörschädigung können in verschiedenen Bereichen sehr unterschiedlich sein. Folglich ergeben sich unterschiedliche Sichtweisen, ob eine Hörschädigung beispielsweise für Zwecke der Sozialleistung, aus pädagogischen Gründen oder aus medizinischer Sicht zu werten ist. So gibt es für die einzelnen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unterschiedliche Definitionen, Bezeichnungen und Abgrenzungen, die zudem vom jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung (z. B. entsprechend dem Niveau fürsorgerechtlicher Leistungen) abhängig sind. Die Problematik wird auch deutlich durch die wiederkehrenden Diskussionen um den Grad der Behinderung (GdB). Die Bewertung der tatsächlichen Auswirkungen der Hörbehinderung ist schwierig, da es ein objektives Maß nicht gibt. Die Feststellung des GdB aufgrund einer Hörschädigung erfolgt anhand der Ergebnisse audiometrischer Untersuchungen. Nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) wird das Ausmaß einer Behinderung in Prozentwerten ausgedrückt, die angeben, in welchem Umfang die individuelle Integrität eines Menschen durch die Behinderung(en) beeinträchtigt wird.
Grad der Behinderung Dieses abstrakte Maß wird als Grad der Behinderung (GdB) bezeichnet. Für Schwerhörigkeit wird der GdB nach der sog. Feldmann-Tabelle ermittelt (Tab. 1). Diese geht auf Vorschläge von Feldmann aus den 1960er Jahren zurück und wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Mit ihrer Hilfe lässt sich der prozentuale Hörverlust aus der Hörweitenprüfung bestimmen.
Die Problematik der Einstufung zeigt sich auch darin, dass bei Vorliegen mehrerer Behinderungen rein rechnerisch die Summe der einzelnen GdB größer sein kann als 100 %, anerkannt werden aber immer nur maximal 100 %.
Ein internationaler Vergleich zeigt Ähnliches. Hinzu kommt, dass auch heute noch in verschiedenen Ländern unterschiedliche Begriffsbestimmungen existieren.
Die Schwierigkeiten beim Gebrauch von Behinderungsbegriffen und die damit verbundenen sprachlichen Wertungen zeigen sich auch in der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD; International Statistical Classification of Diseases