Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt

Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik - Annette Leonhardt


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und sprach nach zwei Monaten Wörter nach. Sein Wortschatz begann rasch anzuwachsen.

      Im folgenden halben Jahr wurden noch andere Hörgeräte ausprobiert. Die Hörgeräte, die er heute trägt (mit 4;7 Jahren), besitzt er seit dem 3. Lebensjahr.

      Mit 3;6 Jahren kam J. in einen Waldorfkindergarten. Seit dieser Zeit wuchs sein Wortschatz rasch an. Er kommt im Kindergarten gut zurecht, kann sich mit den anderen Kindern verständigen und wird von ihnen akzeptiert. Für sein Alter hat er einen vergleichsweise umfänglichen Wortschatz und spricht vollständige Sätze. Seine Aussprache ist oft noch verwaschen, sein Sprachverständnis ist gut.

      Die Entwicklungsperspektiven sind gegenwärtig noch offen. Die Eltern hoffen auf einen Besuch der allgemeinen Schule (nach: HörEltern 1998, 7 – 9).

      Fallbeschreibung 2: Kristina Sch., hochgradig schwerhörig, an Taubheit grenzend, Studentin des Lehramts an Sonderschulen mit der vertieft studierten Fachrichtung Gehörlosenpädagogik

      Sie beschreibt ihr Leben so: „Der Hörverlust ist auf der rechten Seite etwa 95 dB und auf der linken Seite 110 dB. Ich habe nur sehr geringe Hörreste, die ich aber mit meinen HdO-Geräten beiderseits sehr gut verwerten kann.

      Als ich ungefähr 9 Monate alt war, bekamen meine Eltern langsam den Verdacht, dass ich nicht hören könne. Sie bemerkten, dass ich immer weniger und monotoner lallte, anstatt in die 2. Lallperiode zu gelangen. Außerdem habe ich immer seelenruhig weitergeschlafen, obwohl in der Nachbarschaft die Kinder sehr laut waren. Daraufhin experimentierten meine Eltern selbst mit mir, ob ich auf Geräusche reagieren würde. Das war sehr schwierig, da ich relativ schnell mit den Augen bin. Da sich ihr Verdacht bestätigte, wurden sie vom Kinderarzt zu einem HNO-Arzt vermittelt. Nach dessen Diagnose, dass ich ,stocktaub’ sei, wurde ich in die Universitätskliniken in Würzburg überwiesen. Dort wurde dann die Diagnose ,hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit’ gestellt. Für meine Eltern war es natürlich ein großer Schock. Dennoch fassten meine Eltern den Entschluss, dass sie mich nicht als Behinderte behandeln wollten, sondern wie ein normales hörendes Kind. So war für sie der wichtigste Grundsatz: ,Wir werden unser Kind so behandeln, als ob es nicht behindert wäre.’ Damit ist gemeint, dass sie mich nicht übermäßig behüten wollten oder mir etwas erlaubten, was sie mir normalerweise nicht erlaubt hätten, und dies nur taten, weil sie Mitleid mit mir hatten, so nach dem Motto: ,Ach, lass das Kind, es kann ja nicht hören.’

      Ich war in meinen ersten Lebensjahren ein recht ,wildes’ Kind: Ich rannte oft durch den Garten oder spielte mit meinem Vater. Ich hatte auch viele hörende Spielkameraden. Mein Vater hat mich oft durch die Luft geworfen, auf dem Spielplatz habe ich wie jedes andere Kind herumgetobt. Mir kam damals nie ins Bewusstsein, dass ich nicht normal höre wie die anderen Kinder.

      Mit etwa 11 Monaten habe ich mein erstes Hörgerät bekommen: ein Taschengerät. Ich habe es sehr oft getragen. Es ist so zum festen Bestandteil meines Lebens geworden, dass ich mich heute sehr unwohl und hilflos fühle, wenn ich nichts höre.

      Zu diesem Zeitpunkt kam ich zur Frühförderung an die Frühförderstelle in Würzburg. So mussten wir regelmäßig nach Würzburg fahren, da wir damals noch in Hofheim in den Haßbergen wohnten.

      Wenn ich (etwa mit 2 Jahren) etwas wollte, beispielsweise Limo, dann habe ich es mit einer Geste und einem Gesichtsausdruck ausgedrückt. Meine Mutter hat mir daraufhin Limo gegeben und dabei ,Limo’ gesagt und dabei meine Aufmerksamkeit auf ihren Mund gezogen. Immer wieder hat sie mir die Namen von den verschiedenen Dingen genannt. Immer, wenn ich zu ihr geschaut habe, hat sie mit mir gesprochen, auch wenn ich ,nichts’ hörte. Wenn ich nicht geschaut habe, hat sie nichts gesagt. So lernte ich allmählich das Absehen und mein Restgehör zu verwerten.

      Auch hat meine Mutter mich auf diverse Geräusche aufmerksam gemacht, zum Beispiel auf Hammerschläge, wenn mein Opa etwas zusammengebaut hat. Oder auf den Krach der Bohrmaschine, wenn mein Vater ein Loch in die Wand gebohrt hat. Kurze Zeit später nahm ich den Bohrlärm sehr deutlich wahr.

      Mit der Zeit habe ich versucht, das, was meine Mutter mir sagte, nachzuahmen. Ein Beispiel: Wir gingen oft spazieren. Immer, wenn meine Mutter uns fertig angezogen hatte, sagte sie: ,Ab die Post’, und wir gingen los. Etwa mit 2 Jahren sagte ich dann etwas, das wie ,abberpod’ klang. Dazu kam, dass ich mit 2 Jahren eine kleine Schwester bekam, die, wie sich später herausstellte, auch eine hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit hat. So bekam ich mit, dass meine Mutter sie genauso behandelte wie mich.

      Ich möchte hier betonen, dass ich nichts anderes kannte als das, was mir meine Mutter beibrachte. Es fiel mir nicht auf, dass ich anders sprach als die anderen Kinder oder dass ich das Sprechen anders lernte als andere Kinder. Für mich war dies der ganz normale Alltag.

      Zum Sprechenüben benutzten wir auch zu Hause einen Phonator. Einmal haben meine Schwester und ich mit unseren Puppen Sprechunterricht gespielt. Da war ich etwa 4 Jahre alt. Daran erkennt man ganz deutlich, wie sehr diese Geräte und das Sprechenlernen in unser Leben integriert waren, dass wir es als etwas ganz Normales angesehen haben.

      Zum Beispiel dachte ich immer, dass Kinder nicht telefonieren können, nur die Erwachsenen, da ich ja keine Kinder telefonieren gesehen habe. Als ich dann ein Kinderlexikon zu meinem 8. Geburtstag bekam, sah ich unter dem Wort ,Telefon’ ein Bild, wie ein Junge mit seinem Vater telefonierte. Da wurde mir klar, dass andere Kinder telefonieren können bzw. später können werden. Ich habe dann meine Mutter gefragt und sie hat es bestätigt. Da war ich schon etwas traurig, und mir wurde meine Hörbehinderung richtig bewusst, vielleicht zum ersten Mal.

      Der tägliche Umgang mit der Sprache hat mir sehr viel gebracht, da ich es nicht als ,Du musst’, sondern als etwas Alltägliches empfunden habe. Beim Essen zum Beispiel haben wir oft miteinander gesprochen. Dies war und ist immer noch für meine Eltern und mich das Wichtigste. Meine Mutter kannte mein Wortschatzniveau gut, und so verwendete sie Wörter, die ich kannte, und fügte so nach und nach neue Wörter hinzu. Dabei bewegte sie sich an der obersten Grenze meines Wortschatzes.

      Was auch ganz wichtig war, ist, dass wir oft Bilderbücher angesehen haben. Meine Mutter hat mir oft vorgelesen, so sah ich, dass die Geschichten aus den Büchern kamen. Oft waren wir in der Stadtbücherei, um Bilderbücher anzusehen. Hinzu kommt, dass meine Eltern beide sehr gern lesen und so zu Vorbildern für mich wurden. Zuerst waren da die reinen Bilderbücher, dann die Bilderbücher mit Text, dann verschwanden die Bilder allmählich, dann hatte ich Bücher, die noch einige Bilder beinhalteten, zum Beispiel Enid-Blyton-Bücher, schließlich las ich dann auch bilderlose Bücher.

      Als ich in die Dr.-Karl-Kroiß-Schule Würzburg kam, besaß ich bereits einen sehr großen Wortschatz, ich konnte auch sprechen, aber sehr verwaschen. Das richtige Artikulieren habe ich dann in der Schule gelernt. Dort wurde lautsprachlich unterrichtet, aber für mich war das nichts Neues und somit auch nicht so anstrengend und mühevoll wie für andere gehörlose Kinder.

      Als ich in der Schule lesen lernte, konnte ich meinen riesigen Wortschatz noch besser verwenden. Und ich las gern! Dies hat höchstwahrscheinlich zu einem relativ guten Grammatikverständnis und einer weiteren Verbreiterung meines passiven Wortschatzes beigetragen. Lesen tue ich immer noch sehr gerne. Und ich finde, es hat mir sehr viel gebracht.

      Nach der Schule war immer ,Erzählstunde’ beim Mittagessen. So erfuhr meine Mutter auch, wie weit ich in der Schule gekommen bin und hat an dem neu Gelernten angeknüpft, um das Gelernte zu vertiefen.

      Wichtig war: Ich wurde ganz normal behandelt und erzogen, als ob ich keine Hörbehinderung hätte, und nebenbei wurde mir im normalen Alltag die Sprache beigebracht, ich kannte also nichts anderes. Ich empfand das Sprechenlernen nicht als ,Du musst’, sondern als etwas ganz Normales, Spielerisches. Die Bücher waren mir bei der Erlernung und Vertiefung der deutschen Sprache und Grammatik eine sehr große Hilfe“ (aus: Schunk 1998, 198ff).

      Mit dem Aufkommen des Neugeborenenhörscreenings kommt es zu Veränderungen:

      Fallbeschreibung 3: Die Mutter von


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