Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Annette Leonhardt
des zentralen Hörsystems (und auch durch die praktischen Erfahrungen), die belegen, dass Hören mehr als die Verarbeitung von Schallereignissen durch das Ohr ist. In erster Linie ist Hören die Auswertung dieser Schallereignisse durch das Gehirn. Dazu braucht das Kind mit Hörschädigung den frühzeitigen Zugang zum Hören, die bewusste Zuführung externer akustischer Reize und eine entsprechende pädagogische Begleitung und Förderung.
Aus diesen beiden Ansätzen heraus wird deutlich, dass klassische Einteilungen in „gehörlos“ und „schwerhörig“ zunehmend zu hinterfragen waren. Hinzu kommt, dass Entwicklungsverläufe nicht mit dem Hörstatus korrelieren: So können bei gleicher Art und annähernd gleichem Ausmaß eines Hörschadens völlig unterschiedliche Entwicklungsverläufe bei einzelnen Kindern zu beobachten sein.
Die „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Hören“, die von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland am 10. Mai 1996 beschlossen wurden, haben die „Empfehlungen für den Unterricht in der Schule für Gehörlose (Sonderschule)“ vom 30. Mai 1980 und die „Empfehlungen für den Unterricht in der Schule für Schwerhörige (Sonderschule)“ vom 30. August 1981 aufgehoben. In den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Hören“ wird durchgängig von hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen gesprochen. Zur sonderpädagogischen Förderung in Sonder-/Förderschulen wird ausgeführt:
„Kinder und Jugendliche mit den Förderschwerpunkten im Bereich des Hörens, der auditiven Wahrnehmung, des Spracherwerbs, der Kommunikation sowie des Umgehen-Könnens mit einer Hörbeeinträchtigung, deren Förderung in allgemeinen Schulen nicht ausreichend gewährleistet werden kann, werden in Schulen für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche in entsprechenden Bildungsgängen unterrichtet … Von besonderer Bedeutung ist im Blick auf die Lernerfolge der förderbedürftigen Schüler und Schülerinnen das verantwortungsvolle Zusammenwirken einer Schule für Gehörlose und einer Schule für Schwerhörige im gleichen Einzugsbereich“ (1996, 377).
Einleitend wurde vorangestellt, dass die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit den Förderschwerpunkten in den genannten Bereichen alle Schulstufen und Schularten einbezieht. Sie habe zu einer Vielfalt von Förderformen und Förderarten geführt. Bereits zu diesem Zeitpunkt (Mitte der 1990er Jahre) wurde dem gemeinsamen Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung ein größerer Stellenwert als je zuvor eingeräumt, ebenso den vorbeugenden Maßnahmen, die Entwicklungsverzögerungen und Fehlentwicklungen verhindern, mindern oder weitergehende Auswirkungen einer Hörschädigung vermeiden sollen. Dazu sollen sofort nach dem Erkennen der Hörschädigung Fördermaßnahmen einsetzen. Da dies außer bei erworbenen Hörschädigungen heute unmittelbar nach der Diagnose erfolgt (diese soll umgehend nach Auffälligkeiten beim Neugeborenenhörscreening eingeleitet werden), wird der Frühförderung ein expliziter Stellenwert zugewiesen (Kap. 11).
Die Ursachen für eine Hörschädigung sind unterschiedlicher Art (Kap. 3.3). Hörschädigungen können angeboren sein (genetisch bedingt bzw. prä- oder perinatal auftretend) oder im Laufe des Lebens eintreten.
Unabhängig davon, welche Ursache für eine Hörschädigung besteht oder in welchem Alter sie eintritt, sind stets Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem mehr oder weniger großen Teil pädagogischer Natur sind. Ziele, Inhalte, Methoden und Organisationsformen dieser speziellen Maßnahmen sind Gegenstand der Hörgeschädigtenpädagogik (Kap. 2.3).
Zusammenfassung
Die Schwierigkeiten, Menschen mit Hörschädigung wirkungsvoll zu helfen und zu unterstützen, zeigen sich bereits in dem Versuch, Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit zu definieren. Diese definitorischen Klärungsversuche sind keine bloße Begriffsspielerei, sondern weisen die Richtung für Hilfen und Unterstützung, die den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Hörschädigung geboten oder angeboten werden müssen.
Vor allem die Pädagogen waren seit den 1990er Jahren bemüht, die allein an Beeinträchtigungen (Defiziten) und Förderbedarf orientierten Definitionen zu überwinden. So schließt man Auswirkungen mit ein, die „im pädagogischen Sinn wesentlich sind“ oder „die Teilhabe an der Gesellschaft (die zwangsläufig eine Gesellschaft der Hörenden ist) beeinträchtigen“ oder man betrachtet die „besonderen (individuellen und sozialen) Bedingungen, unter denen, z. B. in der Schule, gelernt werden muss“. Diese Begriffsbestimmungen schließen ein, dass die Beeinträchtigungen, die sich aus dem eingeschränkten oder (in Ausnahmefällen) vollständig ausgefallenen Hören ergeben, die geistige, emotionale und soziale Entwicklung und Stabilität der Betroffenen nachhaltig beeinflussen. Bezogen auf Kinder bedeutet das, dass ihre Förderung nicht auf den Ausgleich oder die Kompensation des eingeschränkten oder ausgefallenen Hörens beschränkt bleiben darf, sondern eine vielseitige und umfassende Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Daraus ergibt sich für die Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören eine im Vergleich zur allgemeinen Schule erweiterte Aufgabenstellung, die sich beispielsweise in einer größeren Variationsbreite im Fächerangebot, in der Ausdehnung der Grundschulzeit um ein Schuljahr, in den Curricula und in der Leistungsbeurteilung zeigen kann. Zugleich soll der Unterricht das soziale Lernen und die Entwicklung einer positiven Selbsteinschätzung unterstützen. Das Förderzentrum, Förderschwerpunkt Hören (einschließlich seiner Abteilungen für Frühförderung und Elementarerziehung, Pädagogisch-Audiologischer Beratungsstelle und Mobiler Sonderpädagogischer Dienst) ist vollumfänglich auch für alle Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf Hören in inklusiven Settings zuständig.
Trotz der aufgeworfenen Problematik sind Begriffsbestimmungen unumgänglich, da nur bei einer klar definierten Ausgangsbasis eine wissenschaftliche Verständigung und ein gezieltes praktisches Handeln möglich werden. Der einzelne Begriff muss so klar definiert sein, dass der Spielraum für subjektive Interpretation gering ist, wohl aber kann man unterschiedliche Definitionen entsprechend unterschiedlicher Sichtweisen oder unterschiedlicher Bezugssysteme einbringen.
2.2 Ziele der Hörgeschädigtenpädagogik
Es wird nicht möglich sein, im Rahmen der Ausbildung für pädagogische Berufe die Fähigkeit zu vermitteln, die richtige Handlungsanweisung aus vorgegebenen übergeordneten gesellschaftlichen Zielen abzuleiten. Das Studium der Pädagogik bietet jedoch Wissen über Voraussetzung und Folgen des pädagogischen Handelns (Lenzen 2004, 20ff). Betrachtet man im Gegensatz dazu aber konkrete Ziele (Absichten), so können diese die Effektivität pädagogischen Handelns erhöhen. In diesem Sinne ist nachfolgende Reflexion zu betrachten.
Bevor die Bestimmung des Begriffs Hörgeschädigtenpädagogik durch Kennzeichnung des Ziels (Kap. 2.2) und des Gegenstandes (Kap. 2.3) vorgenommen wird, sollen die Begriffe Pädagogik, Sonderpädagogik und Inklusive Pädagogik skizziert werden. Eine umfängliche Bestimmung dieser Begriffe ist der entsprechenden Fachliteratur zu entnehmen. Die hier vorgelegten Fassungen dienen dazu, eine gedankliche Diskussionsbasis zu schaffen. Die Voranstellung scheint sinnvoll, da die Hörgeschädigtenpädagogik als Teilgebiet der Sonderpädagogik gesehen wird, die sich wiederum als Teilgebiet der (Allgemeinen) Pädagogik versteht. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch etabliert sich Inklusive Pädagogik als Transformation der Sonderpädagogik (Biewer 2017).
„Pädagogik“ bezeichnet die Lehre, Theorie und die Wissenschaft von der Erziehung und Bildung der Kinder und der Erwachsenen in unterschiedlichen pädagogischen Feldern wie Familie, Kindergarten, Schule, Freizeit und Beruf.
Pädagogik hat sich ursprünglich auf das Kind (von griechisch pais agein, wörtich: Führung des Knaben bzw. Kindes vom Haus zur Übungsstätte) beschränkt. Seit dem Vordringen der Pädagogik in viele Bereiche der Gesellschaft wurde sie auf die Erwachsenen ausgedehnt (dort auch als Andragogik oder Geragogik bezeichnet).
Der Terminus „Pädagogik“