Theologie des Alten Testaments. Michaela Bauks
(Beck’sche Reihe 2160).
Leuenberger, Martin: Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im Alten Israel, Tübingen 2011 (FAT 78).
Römer, Thomas: How To Write a Literary History of the Hebrew Bible? A Response to David Carr and Konrad Schmid, in: Indian Theological Studies 50 (2013), 9–20.
Schmid, Konrad: Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 2008.
Schniedewind, William M.: How the Bible Became a Book. The Textualization of Ancient Israel, Cambridge 2004.
1.4 Der hermeneutische Bezugsrahmen
Paul Ricœur
Am Ende dieser Einleitung stehen Überlegungen, wie diese Perspektivierungen zentraler theologischer Themen in der vorliegenden Darstellung aufzunehmen sind und welchen hermeneutischen Prämissen sie folgen. P. Ricœur hat darauf hingewiesen, dass im Unterschied zu anderen literarischen Texten die Besonderheit der Bibel in der „Sache des Textes“ bzw. in der „Welt des Werkes“ liegt, d. h. in „der Welt, die der Text [= die Bibel] vor sich entfaltet.“29 Die zentrale Differenz zwischen „Bibel“ und „Literatur“ ist folglich nicht die Fiktion, der beide unterliegen. Der Unterschied liegt im Folgenden: Während die Textwelt in der Belletristik einen in sich geschlossenen Weltentwurf schafft, der sich in dichterischer Form von der alltäglichen Wirklichkeit entfernt, entwirft die Bibel hingegen eine „Wirklichkeit des Möglichen“, in der die Gottesbeziehung und die Aneignung durch den Leser eine zentrale Stellung einnimmt (41–43). Als kanonischer Text ist die Bibel „ein umgrenzter Raum für die Interpretation […], in dem die theologischen Bedeutungen in einer Wechselbeziehung zu den Formen der Rede stehen“ (39). Dennoch ist der Text nicht statisch, sondern lebt von der Bewegung der Interpretation, die im Wechselspiel der Aneignung der verschiedenen Redeformen geschieht, die das „Glaubensbekenntnis“ und die ihm zugrunde liegende göttliche Offenbarung in seiner von der jeweiligen Rede abhängigen Form zum Ausdruck bringen. Dabei schaffen die überlieferten Redeformen theologisch bedeutungsvolle Spannungen und Gegensätze, wie sie z. B. in der Erzählliteratur der Tora neben den Sprüchen der Prophetie, d. h. dem Gegensatz von historischem Bericht und Weissagung bestehen, oder in dem Gegensatz von Gesetzgebung und Weisheit oder Hymnus bzw. Spruch. Der theologische Gehalt jeder einzelnen Form ergibt sich aus dem Ganzen der verwendeten Redeformen, so dass die „religiöse Sprache […] dann als eine von dem Zirkel der Formen getragene polyphone Sprache erscheinen“ kann (39). Es liegt somit nicht nur ein Kanon von Texten, sondern zugleich auch ein fixes Korpus von sprachlichen Umsetzungen in den jeweiligen Redeformen vor, in dem „die theologischen Bedeutungen in einer Wechselbeziehung zu den Formen der Rede stehen. Von nun an ist es unmöglich, die Bedeutungen zu interpretieren, ohne den langen Umweg einer strukturalen Erklärung der Formen zu machen“ (39). Angesichts des hohen Alters der Texte tritt zu der Formanalyse die historische hinzu, die dazu beiträgt, den durch die Verschriftlichung autonom gewordenen Text in seiner ursprünglichen Textwelt zu (re)kontextualisieren. Struktur und Intention des (historischen) Textes bezeichnen den Sinn; die Welt des Textes, die sich aus dem Vorgang seiner Verschriftlichung und der Kanonisierung ergibt, bezeichnet nicht das, was gesagt wird, sondern worüber etwas gesagt wird. Und darin liegt die offenbarende Funktion des poetischen Diskurses der Bibel und ihre nachhaltige Wahrheit, die den gesamten Kanon (AT und NT) umfasst, der in Rückbindung an die jeweilige Interpretationsgemeinschaft beansprucht, Zeugnis von den Manifestationen Gottes zu geben.30
Die obenstehenden Ausführungen machen deutlich, dass die theologischen Überlegungen einerseits mit literargeschichtlichen bzw. literaturwissenschaftlichen Überlegungen („Einleitungswissen“) und andererseits mit historischen, d. h. an politischen, sozial- und religionsgeschichtlichen Fragen orientierten Erkenntnissen zu konfrontieren sind. Folgende Graphik soll das nötige Zusammenspiel der Methoden verdeutlichen:
Tab. 1: Zusammenspiel der methodischen Zugänge
Die Nebeneinanderstellung der drei Zugänge verdeutlicht, dass die in der dritten Spalte aufgeführten Zielsetzungen theologischen Arbeitens ohne den Rückgriff auf historische und literarische Überlegungen nicht zu erreichen sind. Einerseits ist die Bibel kein Buch aus einem Guss, d. h. kein Text, den man wie den abgeschlossenen Entwurf einer (fiktiven) Textwelt (z. B. eines Romans) interpretieren könnte, andererseits stellt sie auch kein stringentes theologisches System dar. Vielmehr handelt es sich um eine gewachsene Bibliothek („biblia“) z. T. historisch divergierender Traditionen, die sich zudem aus einem jüdischen und einem christlichen Teil zusammensetzt.
Zum einen sind die alttestamentlichen Einzelerzählungen bzw. -texte und die Buch- bzw. literarischen Kontexte (Tora; Propheten; Schriften) synchron, das heißt in der vorliegenden Gestalt zu untersuchen. Welche literarischen Formen und Gattungen finden sich in welchem Kontext? Welche Themen und Motive? Dass neben dem Exodusbuch auch Prophetenbücher und Psalmen den Exodus thematisieren, oder dass Psalmen sich nicht nur im Psalter, sondern auch in der Erzählliteratur und in prophetischen Texten finden (z. B. Ex 15 oder Jon 2), sind gleichfalls Beobachtungen, die auf synchroner Ebene die Frage nach der jeweiligen theologischen Funktion aufwerfen.
Theologische Strömungen s. u. 2.9
Zum anderen sind diachrone Überlegungen wichtig. Sie konzentrieren sich auf die Wachstumsgeschichte einer Einzelerzählung oder eines ganzen Buches. So sind das Buch Genesis oder Exodus nicht einem einzigen Autor zuzuschreiben. Erzählungen wie der dreifache Bericht von der entführten Ahnfrau (Gen 12; 20; 26) oder die zweifach berichtete Mose-Berufung (Ex 3; 6) rekurrieren auf ein und dasselbe Ereignis in verschiedenen (theologisch motivierten) Varianten. Bearbeiter und Redaktoren, die die Überlieferungen zusammengeführt haben, suchen nicht die Vereinheitlichung und Vereinfachung. Sie verzichten vielmehr bewusst auf Eindeutigkeit zugunsten der Weitergabe einer Mehrzahl von Überlieferungen, die Eingang in den Kanon fanden. Die Überlieferungen göttlicher Offenbarung unterliegen einer gemeinsamen Perspektivierung, die wir mit W. Zimmerli in die Fluchtlinie der „Selbigkeit JHWHs“ stellen. Diese Linie ist in sehr unterschiedlichen Traditionen, Text- und Bildwelten ausgestaltet und in diachroner Hinsicht in verschiedene religiöse Strömungen und Schulen zu unterteilen.
Anders als die Theologengenerationen der hellenistisch-römischen Zeit, die explizite theologische Reflexionen in Form von Kommentarliteratur produzierten (z. B. die Pescharim unter den Texten vom Toten Meer/Qumran), findet theologische Reflexion in der hebräischen Bibel in Form innerbiblischer Fortschreibungen – und somit implizit – statt. Folglich sind (theologisch) kommentierende Passagen in die vorgegebene Überlieferung mitunter fast nahtlos integriert. Deutlicher wahrnehmbar sind Neuansätze im Fall der Priesterschrift, des Deuteronomiums, Deuterojesajas (Jes 40 ff.) oder der Chronikbücher, sofern die theologischen Werke mit Buch(rollen)anfängen übereinstimmen oder aber – wie in Jes 40 ff. – einen solchen inmitten einer Schriftrolle deutlich markieren. Entgegen der sonst üblichen Einschätzung der biblischen Überlieferung als Sekundärquelle, von der sich die archäologischen, epigraphischen und ikonographischen Zeugnisse qualitativ unterscheiden, sind auch Bibeltexte gleichermaßen zu den Primärtexten zu zählen. Sie sind zwar in ihrer Fortschreibungsgeschichte wegen fehlender materieller Zeugnisse (Manuskripte) nicht exakt rekonstruierbar, geben aber durchaus Einblick in den Prozess durch Nahtstellen der verschiedenen Bearbeitungsstufen.31 Aus der literarischen Genese resultiert, dass es bereits im Alten Testament Theologie bzw. theologische Reflexion gibt, deren Initialphase in der Überarbeitung der Traditionen des Nordreichs nach dessen Zusammenbruch zu Beginn des 8. Jh. zu vermuten ist, um schließlich in der nachexilischen Zeit seit dem 6. Jh. weitere Explikationsgrade zu erfahren (s. die theologisierenden Fortschreibungen in Deutero-Jesaja).