Systemisches Case Management. Matthias Müller
Abb.: Methoden als Bindeglied von Theorie und Praxis
Praxis: Die Praxis der Sozialen Arbeit wird auch Profession genannt, sie ist das berufliche Handlungsfeld, in dem die SozialarbeiterInnen tätig sind. Das sozialarbeiterische Handlungsfeld lässt sich weiter in Interaktion (Mikroebene), Organisation (Mesoebene) und Gesellschaft (Makroebene) unterscheiden. Mit anderen Worten, es arbeiten SozialarbeiterInnen etwa in der Beratung mit KlientInnen auf einer kommunikativen Interaktionsebene, weiterhin sind sie in sozialarbeiterische Organisationen (z. B. in Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämtern oder bei freien Trägern) als Angestellte eingebunden oder erhalten als freiberuflich Tätige ihre Aufträge von diesen Organisationen. Schließlich stellt die Soziale Arbeit ein gesellschaftliches Funktionssystem dar, das neben anderen Systemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion, Recht, Kunst, Wissenschaft etc.) potenziell für alle Gesellschaftsmitglieder (»Bürger«) Leistungen (»soziale Hilfe«) erbringt.
Inzwischen kann gesagt werden, dass Soziale Arbeit gewissermaßen von der Geburt bis zum Tode der Bürger in allen Lebensabschnitten und -bereichen (präventiv, interventiv und postventiv) tätig ist. Dabei fokussiert sie biologische, psychische und soziale Prozesse von Menschen und ist doppelt generalistisch tätig: Sie bezieht sich potenziell sowohl auf die gesamte Gesellschaft (als Berufs- und Funktionssystem) als auch auf alle Ebenen des individuellen Lebens (als organisatorisches und interaktionelles Handlungssystem):
Gesellschaftliches Funktionssystem | Organisations- und Handlungssystem |
Universeller Generalismus: Heterogenität (Vielfältigkeit) des sozialarbeiterischen Handlungsfeldes | Spezialisierter Generalismus: Heterogenität (Vielfältigkeit) des sozialarbeiterischen Fallbezugs |
Prävention * Intervention * Postvention | Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien * Gruppenarbeit * Gemeinwesenarbeit |
Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhife, Familienhilfe, Behindertenhilfe, Obdachlosenhilfe, Suchthilfe, Krankenhilfe, Schuldnerhilfe, Rechtshilfe, Altenhilfe etc. | Biologisches (biologische Bedürfnisse und alle körperlichen/somatischen Aspekte, die damit zusammenhängen) |
Psychisches (psychische Bedürfnisseund alle psychischen/kognitiven/ emotionalen Aspekte, die damit zusammenhängen)Soziales (soziale Bedürfnisseund alle sozialen Aspekte, die damit zusammenhängen |
Abb.: Doppelter Generalismus Sozialer Arbeit
Wissenschaft: Die Wissenschaft der Sozialen Arbeit (Sozialarbeitswissenschaft) wird auch Disziplin genannt, sie ist das Handlungs- bzw. Forschungsfeld, in dem die WissenschaftlerInnen tätig sind, d. h. StudentInnen ausbilden (lehren) und forschen. Die Wissenschaft hat insbesondere die Aufgabe, Wissen bereitzustellen, mit dem die Praxis und mit dem in der Praxis beobachtet, beschrieben, erklärt und bewertet, kurz reflektiert werden kann.
Methoden: Die Methoden Sozialer Arbeit stellen, wie gesagt, ein Bindeglied zwischen Praxis und Wissenschaft dar, sie sind im besten Falle wissenschaftlich begründet und praktisch wirksam. Sie sollen in einem bestimmten Arbeitsfeld, innerhalb von Hilfeprozessen (z. B. innerhalb der Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien) Menschen gezielt dabei helfen, ihre sozialen Probleme zu lösen. Methoden sind in dieser Hinsicht ein »Kern« professioneller Sozialarbeit/Sozialpädagogik.
Zwei Definitionen zum Begriff Methode: »Methode heißt, strategisch einen Weg zu beschreiten, der nach Zweck und Ziel und nach Lage der Dinge angemessen erscheint« (Wendt; zit. nach Galuske 1998, S. 29).
»Methoden der Sozialen Arbeit thematisieren jene Aspekte im Rahmen sozialpädagogischer/sozialarbeiterischer Konzepte, die auf eine planvolle, nachvollziehbare und damit kontrollierbare Gestaltung von Hilfeprozessen abzielen und die dahingehend zu reflektieren und zu überprüfen sind, inwieweit sie dem Gegenstand, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, den Interventionszielen, den Erfordernissen des Arbeitsfeldes, der Institution sowie den beteiligten Personen gerecht werden« (Galuske 1998, S. 25).
Daraus ergeben sich sechs Perspektiven, die bei der Reflexion von Methoden Sozialer Arbeit grundsätzlich zu beachten sind (vgl. ebd., S. 25 f.):
1. Sachorientierung: Welche Probleme sollen mit der Methode bearbeitet werden? Wird die Methode der Problemlage gerecht?
2. Zielorientierung: Welche Ziele sollen mit der Methode erreicht werden? Lassen sich die Ziele mittels der Methode einlösen?
3. Personen- und Interaktionsorientierung: Wird die Methode den betreffenden Personen (KlientInnen/SozialarbeiterInnen) und ihrer Interaktion gerecht?
4. Arbeitsfeld- und Institutionsorientierung: Ist die Methode sinnvoll innerhalb der institutionellen/organisatorischen Rahmenbedingungen anwendbar?
5. Planungsorientierung: Erlaubt die Methode die gezielte Planbarkeit von Hilfeprozessen?
6. Überprüfbarkeit (Evaluation; Controlling): Lassen sich am Ende darüber Aussagen treffen, ob und wie die Methode gewirkt hat?
Sozialarbeiterische Methodik von der Moderne bis zur Postmoderne
Die berufliche, professionelle Soziale Arbeit, so wie wir sie heute kennen, ist ein Ergebnis der gesellschaftlichen Evolution; sie ist beispielsweise hervorgegangen aus der Armenpflege der freien Reichs- und Hansestädte, der bürgerlichen Frauenbewegung, der sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung, der sozialreformerischen Bemühungen staatlicher Institutionen, der so genannten Armenpolicey, der diakonischen und karitativen Bemühungen der Kirchen sowie der Jugendbewegung. Gesellschaftshistorisch lässt sich die Soziale Arbeit neben vormodernen Hilfeformen als die moderne Form des sozialen Helfens bewerten (vgl. Luhmann 1973).
Vormoderne | Moderne | |
Archaische Gesellschaft (»Urgesellschaft«) | Hochkultivierte Gesellschaft (»Feudalistische Gesellschaft«) | Moderne Gesellschaft (»Kapitalistische Gesellschaft«, »Industriegesellschaft« etc.) |
primär differenziert in soziale Segmente (z. B. in Familien, Stämme etc.) | primär differenziert in soziale Schichten und Klassen (Bauern, Handwerker, Adel etc.) | primär differenziert in Funktionssysteme (z. B. Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Erziehung, Soziale Arbeit etc.) |
reziproke (wechselseitige) persönliche Hilfen auf der Grundlage von Hilfe- und Dankeserwartungen | moralisch bzw. religiös inspirierte Hilfen zwischen verschiedenen Schichten/Klassen | gesetzlich definierte, abgesicherte und organisatorisch durchgeführte Hilfen (rationalisierte, bürokratisierte und ökonomisierte Hilfe, Sozialstaatsprinzip, moderne und professionelle Sozialarbeit) |
Abb.: Hilfeformen im Wandel
Soziales Helfen kann verstanden werden als Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse von Menschen, die diese nicht mehr selbst befriedigen können. Sozialarbeiterische Hilfen beziehen sich auf materielle und symbolische (soziokulturelle) Bedürfnisse, die für die physische und psychische Reproduktion von Menschen erforderlich sind bzw. gesellschaftlich so bewertet werden. Somit wird soziales Helfen auch verstanden als ein Bedarfsausgleich im Hinblick auf ungleich verteilte und verfügbare soziale Ressourcen und Kapazitäten – z. B. Unterkunft, Nahrung, Gebrauchsgegenstände, Geld, Arbeit, Freizeit, Erziehung, Bildung, Betreuung, persönliche