Systemisches Case Management. Matthias Müller

Systemisches Case Management - Matthias Müller


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Mitteln das eigene Interesse und die Mitarbeit der Klienten zu wecken vermöchte, ohne die materielle Hilfe wirkungslos bliebe« (Müller 1995, S. 35). Die Psychoanalyse lenkt den Blick der SozialarbeiterInnen auf die Gestaltung und Reflexion der helfenden Beziehung, auf die Möglichkeiten der kognitiven und emotionalen Ver- und Aufarbeitung, Gestaltung und Überwindung von subjektiv erfahrenen psychosozialen Problemlagen.

      Das Verdienst der Psychoanalyse für die Sozialarbeit liegt darin, die Perspektive der sozialen Hilfepraxis zu öffnen für die individuell-subjektiven und psychologischen Dimensionen des Helfens, die sowohl die KlientInnen als auch die HelferInnen gleichermaßen tangieren. Das professionelle Reflektieren der gegenseitigen Verstrickungen, der Übertragungen, Gegenübertragungen und Widerstände in Hilfeprozessen, das die Psychoanalyse ausgesprochen differenziert erlaubt, kann entscheidend dazu beitragen, helfende Beziehungen in ihrer konstruktiven oder destruktiven Dynamik einschätzen zu lernen und kontextuell angemessen zu handeln.

      Die Psychoanalyse kann SozialarbeiterInnen dafür sensibilisieren, dass die Kenntnis ihrer eigenen kognitiven und emotionalen Welten ein grundlegendes Arbeitsinstrument bei der Gestaltung helfender Beziehungen ist. Die Persönlichkeit des Helfers ist zentraler Bestandteil des Hilfeprozesses, der in seiner emotionalen bzw. affektiven Dynamik letztlich nur durch die Wahrnehmung seelischer Vorgänge des Helfers beobachtet werden bzw. beschrieben, erklärt und bewertet werden kann (vgl. Stierlin 1971).

      Kritik: Trotz der offensichtlichen Verbindungen, der »natürlichen Brücke« (Hollis) zwischen Psychoanalyse und Sozialarbeit ist nicht zu verkennen, dass die – verkürzte und unreflektierte – Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse und Methoden in sozialarbeiterischen Handlungsfeldern Probleme bereitet. Beispielsweise medizinalisiert oder therapeutisiert die psychoanalytische Betrachtung nicht selten psycho-soziale Probleme. Vor allem die Medizinalisierung psychosozialen Leidens ist mit dem frühen psychoanalytischen und dem frühen sozialarbeiterischen Denken des Social Case Work eng verhaftet. Genauso wie Freud, der die Psychoanalyse an dem zu seiner Zeit paradigmatisch auch die Human- und Sozialwissenschaften prägenden naturwissenschaftlichen Verständnis ausrichtete (vgl. Capra 1982, S. 194), orientierte sich beispielsweise auch Mary Richmond bezüglich der Konzeption einer personenbezogenen Sozialarbeit am medizinischen Modell. Die Begriffe »Diagnose« und »Behandlung« wurden somit zu wesentlichen Elementen der Case-Work-Literatur.

       Humanistische Psychotherapien als methodische Grundlage Sozialer Arbeit

      Die humanistische Psychologie wurde 1962 in den USA als kritische psychologische und psychotherapeutische Kraft zwischen Psychoanalyse und der akademischen Verhaltenspsychologie begründet (vgl. Fraßa 1993). Als ihr geistiger Vater gilt der Motivationspsychologe Abraham Maslow (1908–1970). Die humanistische Psychologie hebt das Bedürfnis des Menschen nach Wachstum und Selbstverwirklichung hervor und betont deshalb vor allem die durch die Therapie zu aktivierenden »positiven Kräfte« selbstverantwortlicher Individuen.

      »Nicht die Erforschung unbewusster seelischer Vorgänge wie bei der Psychoanalyse, sondern die Schärfung des Bewusstseins für innere Erfahrungen steht im Vordergrund. Psychotherapie wird als Lernerfahrung betrachtet, die nicht von außen gesteuert ist, sondern die die dem Individuum innewohnenden, auf Selbstheilung zielenden Kräfte unterstützt«(Fraßa 1993, S. 480).

      Im Einzelnen werden insbesondere die Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers, die Gestalttherapie nach Fritz Perls, das Psychodrama nach Iacov Moreno oder die Logotherapie nach Viktor E. Frankl der humanistischen Psychologie bzw. Psychotherapie zugeordnet.

      Die Soziale Einzelfallhilfe wurde insbesondere von der nicht-direktiven, klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bzw. Beratungsmethode Carl Rogers’ maßgeblich beeinflusst. Die wesentlichen Annahmen der Gesprächspsychotherapie sind (vgl. Schneider u. Esser 1993):

      Klienten-/Personenzentriertheit: Im Mittelpunkt des beraterischen Interaktionsgeschehens während der Sozialen Arbeit mit Einzelnen steht die hilfesuchende Person mit ihren jeweiligen Gefühlen, Wünschen, Zielen und Wertvorstellungen, kurz: mit ihrer subjektiven Sicht auf die Innen- und die Außenwelt. Die HelferInnen geben weder Ratschläge noch Empfehlungen, weder bewerten sie die Sicht- und Verhaltensweisen der KlientInnen, noch intervenieren sie diesbezüglich direktiv durch konkrete Vorschläge. Das Ziel während der Beratung besteht darin, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, die die Angst der KlientInnen mindert und sie schließlich in die Lage versetzt, selbst aktiv an der kreativen Lösung der eigenen Probleme zu arbeiten. Somit steht auch hier »Hilfe zur Selbsthilfe« im Mittelpunkt.

      Beeinflussung und Veränderung des Gesprächsverhaltens, der Selbstexploration (Selbstbefragung, -einschätzung, -offenbarung) und des problematisierten Verhaltens und Erlebens der KlientInnen durch das verbale und soziale Verhalten der SozialarbeiterInnen: Als für den Hilfeprozess maßgebliche Verhaltensweisen bzw. zentrale Basisvariablen der HelferInnen gelten:

      a) »Echtheit« (Kongruenz, Authentizität) der HelferInnen;

      b) die volle Akzeptanz bzw. Wertschätzung und das bedingungslose, positive Bemühen um die KlientInnen;

      c) das tiefe, sensitive und einfühlende Verständnis für die Gefühle der KlientInnen und deren Bedeutung (Empathie).

      Die Verfahren der nicht-direktiven Beratung sind insbesondere:

      Erstens: Ermöglichung der Selbstexploration: Hierbei geht es darum, die KlientInnen zu befähigen, über sich selbst zu sprechen, darüber, was sie bedrückt, was sie denken und was sie fühlen. Der Berater »bestimmt seine Rolle mit der Mitteilung, dass er selbst keine Lösung für die Schwierigkeiten des Klienten bereitstellen kann, dass er aber bereit ist, ihm bei der Lösung seiner Schwierigkeiten beizustehen. Da der Klient in kein Gespräch über Sachverhalte eintreten kann, wird er auf seine eigenen Erfahrungen zurückverwiesen« (Geißler u. Hege 1988, S. 80).

      Zweitens: Die Verbalisierung der emotionalen Erlebnisinhalte der KlientInnen: Mit diesem Verfahren sind die BeraterInnen aufgefordert, den KlientInnen aktiv zuzuhören, sie vor allem emotional zu verstehen, d. h., die HelferInnen teilen den KlientInnen mit, was sie an Emotionen wahrgenommen haben. Es wird davon ausgegangen, je mehr es den BeraterInnen gelingt, adäquat die Erlebnisweise der KlientInnen verbal zu erfassen, umso stärker sind die KlientInnen in der Lage, sich zu öffnen und über ihre Probleme zu sprechen. Beispiel einer Interaktion, in der die Beraterin die emotionalen Erlebnisinhalte des Klienten verbalisiert (Geißler u. Hege 1988, S. 85 f.):

Klient:Ich weiß manchmal gar nicht, wie ich mich verhalten soll.
Beraterin:Sie fühlen sich richtig verunsichert.
Klient:Meine Mutter lässt mich nie in Ruhe.
Beraterin:Sie fühlen sich fast kontrolliert.
Klient:Ich langweile mich sehr.
Beraterin:Es spricht Sie überhaupt nichts an.

      Kritik: »In allen Gesprächen oder Gesprächsabschnitten, in welchen es darum geht, die emotionale Lage des Klienten ihm selbst und dem Sozialpädagogen zu verdeutlichen, ist die Anwendung dieses Verfahrens eine adäquate Intervention. Konflikte […], die im Berufsfeld des Sozialpädagogen auftreten, sind jedoch mit Selbstexploration des Klienten allein nicht zu lösen. […] Schon Rogers hat deutlich gemacht, dass Klienten, deren Schwierigkeiten im Umfeld liegen, nicht geeignet sind für klientenzentrierte Gesprächsführung. Dies bedeutet für den Sozialpädagogen, dass er zunächst den Einfluss des Umfeldes sehen muss, dann erst entscheiden kann, ob er mit seinen Interventionen sich dem Umfeld, dem Problem und seinem Sachverhalt oder zunächst den psychischen Anteilen des Problems zuwenden muss« (Geißler u. Hege 1988, S. 86 ff.).

       Systemische Familien-/Kommunikationstherapie als methodische Grundlage Sozialer Arbeit

      Die Familientherapie, die in den 1950er Jahren vor allem in den USA entstanden ist, hat insbesondere zwei Wurzeln: zum einen die Sozialarbeit und zum anderen die Schizophrenieforschung; »Beides sind Bereiche, die die Erfahrung vermitteln, dass das menschliche Individuum nicht


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