Systemisches Case Management. Matthias Müller
Dritte Phase: Methodenkritik (etwa 1968–1975): In Zusammenhang mit der 68er Studentenbewegung beginnt auch in der Sozialen Arbeit eine allgemeine Kritik an den Methoden und Arbeitsformen. Kritisiert wird beispielsweise der Optimismus der 1950er Jahre bei der Übernahme der klassischen Arbeitsformen/Methoden aus den USA.
Außerdem wird von einigen Hochschullehrern an den Fachbereichen Sozialwesen der neu gegründeten Fachhochschulen die Wissenschaftlichkeit der klassischen Methoden angezweifelt. Diese Hochschullehrer kamen in der Mehrzahl nicht aus der Praxis der Sozialen Arbeit, was für die bisherigen MethodenlehrerInnen an den Höheren Fachschulen eine unabdingbare Voraussetzung war (vgl. Kersting 1997, S. 336 f.; Schiller 1997, S. 313 ff.).
Vierte Phase Ausdifferenzierung (1980er und 1990er Jahre): Zunehmend werden nun moderne psychotherapeutische Methoden (z. B. Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie und Familientherapie) für das methodische Handeln in der Sozialen Arbeit aufbereitet. Angesichts der professionellen Etablierung Sozialer Arbeit differenzieren sich vielfältige neue Methoden aus, die vor allem die methodischen Diskurse der heutigen Sozialarbeit prägen: z. B. lebensweltorientierte Sozialarbeit, systemische Beratung, Case Management, Empowerment, Mediation, Sozialmanagement, Selbstevaluation, Supervision. Darüber hinaus ist die Soziale Arbeit angesichts immer knapper werdender öffentlicher Kassen aufgefordert, ihre Hilfen stärker als zuvor an ökonomischen Effektivitäts- und Effizienzkriterien auszurichten, zu evaluieren und zu dokumentieren, ob und wie die Ergebnisse der Arbeit mit den Zielen übereinstimmen (Effektivitätsmessung und -dokumentation) und welcher Aufwand welchem Nutzen gegenübersteht (Effizienzmessung und -dokumentation).
Bei der Entwicklung der sozialarbeiterischen Methoden allgemein, aber vor allem bei der konzeptionellen Ausgestaltung der Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familien standen psychologische/psychotherapeutische Verfahren oft Pate. Daher möchte ich im Folgenden die drei Verfahren knapp erläutern, die auch noch heute Grundlage vieler sozialarbeiterischer Erklärungen und Handlungen in der Arbeit mit Einzelnen und Familien sind: die Psychoanalyse/Tiefenpsychologie, die nicht-direktive Beratung bzw. klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie sowie die systemische Familientherapie.
Psychoanalyse/Tiefenpsychologie als methodische Grundlage Sozialer Arbeit
Psychoanalyse ist die Bezeichnung für ein von Sigmund Freud (1856–1939) entwickeltes psychologisches Konzept, das auf drei Ebenen wirksam wird: 1. als Untersuchungsmethode von seelischen Vorgängen, 2. als Behandlungsmethode neurotischer Störungen (Neurosen) und 3. als Gesamtheit psychologischer und psychopathologischer Theoriebildung (vgl. Barth 1993).
Die psychoanalytische Behandlung zielt darauf ab, unbewusste (Interaktions-)Erfahrungen bewusst zu machen. Denn es wird davon ausgegangen, dass seelische Konflikte und Probleme (Neurosen) auf der Verdrängung von traumatischen Interaktionserfahrungen (aus der Kindheit) beruhen. Durch das Liegen auf der Couch und die freie Assoziation während einer (klassischen) psychoanalytischen Psychotherapie soll das Erinnern und das Verbalisieren (Aussprechen) dieser Erfahrungen erleichtert werden. Im Verlaufe einer Psychoanalyse werden aktuelle Konflikte mit Bezugspersonen und mit dem Psychoanalytiker auf die Grundkonflikte, auf die traumatischen Interaktionserfahrungen der Kindheit, zurückgeführt. Es wird angestrebt, diese Erfahrungen und die damit einhergehenden Gedanken und Gefühle nicht nur zu erinnern, sondern auch in der professionellen Übertragungsbeziehung zum Therapeuten emotional zu wiederholen und schließlich mit Hilfe des Therapeuten durchzuarbeiten.
Übertragung ist das von Sigmund Freud beschriebene Phänomen, dass »affektive Einstellungen oder Bindungen aus einer (frühkindlichen) Beziehung in spätere, in irgendeiner Hinsicht ähnliche Beziehungen unbewusst ›mitgebracht‹ und somit gegenüber Personen (oder Institutionen) reaktiviert werden, die ›eigentlich‹ nicht gemeint sind« (Fuchs 1988, S. 802 f.). Sozialwissenschaftlich und -praktisch ist die Übertragung bedeutsam, »weil prinzipiell in jeder aktuellen Beziehung das Nach- und insofern Mitwirken früherer Beziehungen – meist zu den gegenwärtigen Partnern unbekannten Personen – aufzufinden und ein entsprechendes Fortwirken auf künftige Beziehungen zu vermuten ist« (ebd., S. 803).
Freud selbst schreibt: »Machen wir uns klar, dass jeder Mensch durch das Zusammenwirken von mitgebrachter Anlage und von Einwirkungen auf ihn während seiner Kinderjahre eine bestimmte Eigenart erworben hat, wie er sein Liebesleben ausübt, also welche Liebesbedingungen er stellt, welche Triebe er dabei befriedigt, und welche Ziele er sich setzt. Das ergibt sozusagen ein Klischee (oder auch mehrere), welches im Laufe des Lebens regelmäßig abgedruckt wird, insoweit die äußeren Umstände und die Natur der zugänglichen Liebesobjekte es gestatten, welches gewiss auch gegen rezente [gegenwärtige, aktuelle; H. K.] Eindrücke nicht völlig unveränderlich ist« (Freud 1909/1913, S. 364 f.).
Übertragung ist – obwohl dieses Konzept meistens pathologisch konnotiert und in psychoanalytischen Kontexten zur Bezeichnung neurotischer Störungen verwendet wird – ein »normaler«, alltäglicher Vorgang. Dies bringt Gregory Bateson zum Ausdruck, wenn er schreibt, dass »nichts Bedeutung hat, solange man es nicht in irgendeinem Kontext sieht« (Bateson 1982, S. 24). Und weiter: »Diese Sicht wird Übertragung genannt und ist ein allgemeines Phänomen in menschlichen Beziehungen. Sie ist ein universelles Charakteristikum jeglicher Interaktion zwischen Personen, weil schließlich die Form dessen, was gestern zwischen Ihnen und mir vorgefallen ist, darauf einwirkt, in welcher Form wir heute aufeinander reagieren. Und diese Gestaltung ist im Prinzip eine Übertragung aus vergangenem Lernen« (ebd., S. 24 f.).
Peter Sloterdijk bringt dies – geradezu poetisch – noch deutlicher auf den Punkt, wenn er schreibt, »dass Übertragung die Formquelle von schöpferischen Vorgängen ist, die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln« (Sloterdijk 1998, S. 14). In Anlehnung an den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, für den die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt bedeuteten, formuliert Sloterdijk: »Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt« (ebd.).
Zurück zum psychoanalytischen Therapieprozess, hier wird Übertragung zur »Heilung« eingesetzt. Übertragung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Interaktionserfahrungen der Kindheit (z. B. bezüglich der Eltern) auf die aktuellen Beziehungen (z. B. auf die Beziehung zum Therapeuten) übertragen werden. Diese Übertragung ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Psychoanalyse, in der kindliche Ängste, enttäuschte Erwartungen an die Eltern, Traurigkeit, Wut, Verzweiflung etc. zunächst wiederholt (Wiederholungszwang), emotional noch einmal erlebt, dann im günstigsten Falle bewusst erinnert und schließlich in Richtung einer neu zu konstruierenden (»gesunden«) erwachsenen Perspektive auf die Realität therapeutisch durchgearbeitet werden können.
In diesem Zusammenhang sollen auch die Gegenübertragungsphänomene nicht verschwiegen werden. Gegenübertragung meint die Übertragung von Gefühlen, Beziehungserfahrungen und affektiven Bindungserlebnissen von Helfern (Therapeuten, Sozialarbeitern etc.) auf ihre Klienten. Gegenübertragungsphänomene können der konstruktiven Dynamik der helfenden Beziehung hinderlich sein, aber auch positiv genutzt werden. Sie sollten in der Selbstreflexion (z. B. in der Supervision oder Balintgruppenarbeit) thematisiert und gegebenenfalls so »bearbeitet« werden, dass sie positiv nutzbar sind.
Das psychoanalytische Persönlichkeitsmodell differenziert die menschliche Psyche in drei Bereiche: in »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. Das unbewusste »Es« beinhaltet vor allem den Sexual- und den Aggressionstrieb und nimmt die aus dem »Ich« verdrängten Wünsche, Affekte und Erinnerungen auf. Das »ICH« versucht, die Triebimpulse des »Es« sowie internalisierte soziale Anforderungen/Erwartungen aus dem »Über-Ich« mit der sozialen Realität abzustimmen, zu koordinieren bzw. zu vermitteln. Das »Über-Ich« bildet sich ab dem 3. Lebensjahr durch die Verinnerlichung (Internalisierung) elterlicher Verbote, Gebote, Normen und Erwartungen.
Die Soziale Einzelfallhilfe war in den 1930er Jahren eine Zeit lang stark geprägt von der Psychoanalyse (vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Kleve 1999, S. 120 f.). Die professionellen SozialarbeiterInnen erhofften sich von der Rezeption der Psychoanalyse, »den Weg aus der alten, mit repressiven Mitteln