Mamas Alzheimer und wir. Peggy Elfmann
weg und igelten sich ein. Sie wollten nicht zu uns kommen, bis sich das mit der Versicherung geklärt hatte. Meinen Papa plagte noch immer Sorge, dass Mamas Krankenversicherung die Kosten für die Alzheimermedikamente nicht übernehmen würde. Zu Beginn hatten sie die Rechnungen nämlich zurückgewiesen. „Das kann doch nicht sein“, sagte ich. „Die müssen das übernehmen“, meinte mein Bruder. Wir waren da zuversichtlich, aber Papa sorgte sich sehr. Auch der Rentenbescheid war noch nicht durch. Diese finanzielle Unsicherheit stresste ihn. Was konnten wir tun? Nicht viel mehr als ihn bestätigen, denn Papa wollte nichts aus der Hand geben. „Ich mache das schon“, ließ er uns immer wieder wissen, wenn wir Hilfe anboten.
Ich weiß, er wollte stark bleiben und alles alleine meistern und seinen Kindern nicht zur Last fallen. Aber das machte mich auch traurig. In den letzten Wochen meiner Schwangerschaft hätte ich meine Eltern gerne häufiger gesehen. Ich schlief nachts schlecht, das Baby war dann wahnsinnig aktiv, und tagsüber kam ich nicht zur Ruhe. Meine Tochter wollte mit mir spielen und natürlich ging ich mit ihr nachmittags nach dem Kindergarten auf den Spielplatz oder spielte im Garten, auch wenn ich eigentlich nur liegen wollte. Ich wollte stark bleiben in meinem Job-Kind-Alltag – und so telefonierte ich vor allem mit meinen Eltern. Mama ging wie immer ans Telefon, wir erzählten von unserem Tag, von den kleinen Dingen und vom Wetter. Alles in fröhlichem Plauderton, und es war so schön, ihre Stimme zu hören. Aber danach habe ich oft geweint. Dennoch: Das Baby in meinem Bauch gab mir Kraft und Mut.
Ein Stück normales Leben
Meine Mama lenkte sich ab. Zu Weihnachten hatte ich ihr Leinwände und Acrylfarben geschenkt. Und was malte meine Mama? Tauben. Blaue Tauben. Bunte Tauben. Tauben, die ihre Flügel ausbreiteten und flogen. Diese Tauben hatten fulminante Flügel. Wünschte sich Mama, ihre Flügel ausbreiten und der Krankheit davonfliegen zu können?
Nein, sie lief ihr davon. In ihrer Kindheit und Jugend war Mama eine erfolgreiche Leichtathletin gewesen. Ihre Paradedisziplin waren die 400-Meter, und sie war im ganzen Bezirk die Beste darin gewesen. Zu einem Sportfest durfte sie die Fackel ins Stadion tragen. Davon gibt es ein Foto, das ich oft bewundert habe. In meiner Jugend war ich auch in einem Leichtathletikverein, dem selben wie meine Mama Jahre zuvor, und habe zeitweise fast täglich trainiert. Ich war sehr gut und habe viele Medaillen gewonnen, aber so schnell wie meine Mama war ich nie gelaufen. Den Beleg dafür hatte ich schwarz auf weiß. In meiner Jugend hatte Mama mir ihr Wettkampfheftchen von früher geschenkt. Darin hatte sie fein säuberlich mit Füller jeden Wettkampf festgehalten: das Datum, den Ort, ihre Disziplinen und die Zeiten, die sie gelaufen war. Daneben stand, wenn sie eine persönliche Bestzeit gelaufen war, einen Rekord aufgestellt oder den ersten Platz belegt hatte (was sehr häufig war).
Sechs Jahre zuvor waren Mama und ich einen Halbmarathon gelaufen. Ich hatte mit dem Laufen nie wirklich pausiert, manchmal war es etwas weniger, dann wieder mehr. Seitdem ich in München lebte und arbeitete, lief ich wieder regelmäßig. Mama hatte als Sportlehrerin einen aktiven Alltag, aber das regelmäßige Laufen hatte sie erst im Jahr vor dem Halbmarathon wieder aufgenommen. Seitdem gehörte ihr Hobby wieder zu ihr und auch mit Alzheimer lief sie. Papa begleitete Mama beim Laufen, entweder lief er auch oder fuhr mit dem Rad.
Mama nahm sogar an kleinen Wettkämpfen teil. Sie lief in dem Stadion, wo sie schon als Mädchen gelaufen war, und machte Stunden- und Halbstundenläufe mit. Und sie sorgte sich um ihre Leistung wie damals als Schülerin. „Meine Zeit hat sich weiter verbessert. Ich bin froh, dass ich mich vom Tempo wieder steigere“, hatte sie mir geschrieben.
Ich fand es merkwürdig, dass sie sich um ihre Laufleistung sorgte. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit die Diagnose Alzheimer bekommen – und nun dachte sie an ihr Zeiten beim Stundenlauf. Mir schien das anfangs ziemlich überflüssig. ‚Jetzt stress dich doch nicht wegen deiner Zeit beim Laufen‘, hätte ich ihr am liebsten am Telefon gesagt. Aber ich habe es halb fassungslos angehört und danach den Kopf geschüttelt. Zunächst. Doch dann habe ich verstanden, dass es nicht um die Zeit an sich geht, sondern um sie selber. Das Laufen war so ein wichtiger Teil von Mamas Leben. Mit gerade mal acht Jahren war sie zum ersten Mal zum Leichtathletiktraining gegangen – und es hatte sie nie mehr losgelassen. Sie hatte dort ihre Freunde, sie hat dabei ihre Liebe gefunden, das Laufen gehörte zu ihr. Wenn sie auch mit Alzheimer weiter trainierte, zeigte das irgendwie: Ich bin ich und lasse mich nicht unterkriegen. Ich glaube, es gab ihr auch einen wichtigen Halt. Es war eine alte Routine im neuen Leben mit der Alzheimerkrankheit. Es war ein Stück normales Leben.
Mamas Arzt hatte den Sport sehr befürwortet, erst recht als er hörte, dass das Laufen immer ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen war. Er erklärte aber auch, dass es unabhängig davon positiv sei, auf regelmäßige Bewegung zu achten. Denn es würde den Körper stärken und könnte Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes vorbeugen. Und er erzählte, dass es eine Reihe an Alzheimerstudien gebe, die positive Effekte von Bewegung gezeigt hätten. Sport könne das Fortschreiten der Symptome hinauszögern. Wichtig sei vor allem die Regelmäßigkeit, das betonte er. Er empfahl 30 Minuten tägliche Bewegung. Das schaffte meine Mama locker. Mamas Joggen konnte also nur gut sein, dafür, dass sie körperlich und mental fit blieb, und vielleicht konnte es den Alzheimer ein wenig in Schach halten.
Mut durch einen neuen kleinen Menschen
Während meiner Schwangerschaft beschlich mich manches Mal ein schlechtes Gewissen. Denn ein Baby – das war mir klar – würde erst einmal dazu führen, dass ich meinen Eltern noch weniger helfen konnte als sowieso schon. Andererseits: Das Baby führte auch dazu, dass wir alle ein wenig Mut schöpften. Meine Mama freute sich, dass ich noch ein Kind erwartete. Und als meine Tochter dann auf der Welt war, 16 Tage vor Termin, war die Freude riesig. Als ich meine Eltern aus dem Krankenhaus anrief, um zu sagen, dass meine Tochter geboren war, fehlten meinem Papa die Worte. Mama weinte vor Freude. Ich war glücklich und hoffte, dass Mama noch lange eine gute Oma sein könnte. Dass sie überhaupt eine Oma sein könnte. Als sie uns besuchten, um das Neugeborene zu begrüßen, konnte meine Mama sich kaum lösen von dem Baby. Sie strahlte die ganze Zeit. Wir saßen nebeneinander, und ich hoffte, dass dieser kleine Mensch in meinen Arm uns nicht nur für kurze Zeit Mut bringen würde, sondern diese gute Zeit auch noch lange anhielt.
Die gute Zeit sollte so lange wie möglich anhalten. Das wünschten wir uns alle. Wir fingen trotzdem an, uns mit dem Thema Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung zu beschäftigen. „Vielleicht wäre es ganz gut, das jetzt mal alles festzuhalten“, schlug ich meinen Eltern vor. Viel zu lange hatten sie dies vor sich hergeschoben. Nun ging es meinem Papa nicht schnell genug. Er bestellte sich Vorlagen, füllte aus und wollte alles regeln. „Wir wollen auf keinen Fall eine Belastung sein für euch“, sagte er. Aber es war für mich und meinen Bruder klar: Wenn Papa sich nicht um Mama kümmern könnte, würden wir das übernehmen. Meine Eltern gingen zur Notarin und hielten alles fest. Ich heftete meine Kopien der Vollmachten zu Hause schnell in einen Ordner und steckte diesen ganz nach hinten in den Schrank. Es war gut, diese Vollmachten zu haben und für den Ernstfall alles geregelt zu wissen, aber ich hoffte, sie nie benutzen zu müssen. Ich wünschte mir, dass die Vollmachten im Schrank verrotten würden und dass Mama wieder gesund wird und der Alzheimer verschwindet.
Infoteil: Vorsorgen – Drei wichtige Dokumente und mehr
Ich habe mich noch nie gerne mit Themen rund um Geld und Recht beschäftigt. Mit der Diagnose meiner Mama kamen auch Fragen auf wie: Wer darf Entscheidungen treffen, wenn Mama es nicht mehr kann? Wie ist das mit Vollmachten? Was ist eine Patientenverfügung – und braucht man die wirklich? Wir haben uns sehr früh um diese Vollmachten gekümmert, meine Eltern haben sich intensiv beraten lassen. Ich möchte allen Angehörigen und Menschen mit Demenz empfehlen, sich frühzeitig um Vollmachten zu kümmern und zu besprechen, wer der Vertreter sein könnte und diese Aufgabe auch übernehmen möchte. Je früher dies geschieht, umso besser können sie über ihre Zukunft mitbestimmen und sich sicher sein, dass andere Personen in ihrem Sinne handeln. Welche Dokumente brauche ich als Kind, um mich um die Eltern kümmern zu können? Was gilt es zu beachten?
Vorsorgevollmacht: