Mamas Alzheimer und wir. Peggy Elfmann
Arm oder dem Oberkörper platzieren.
Ich telefonierte mit einem Arzt, dessen Nummer ich über drei Ecken bekommen hatte und der in der Forschung bei einem großen Pharmaunternehmen arbeitete. Vielleicht wusste er ja von Mitteln, die gerade in der Erprobung waren und bald auf den Markt kommen würden. Wir sprachen lange über Behandlungsmöglichkeiten, und er bestätigte, was Mamas Arzt auch gesagt hatte: dass sie ein gutes Medikament erhielt, das sich in Studien bewiesen hatte. Das war einerseits enttäuschend, weil ich doch einen kleinen Hoffnungsschimmer hatte in puncto Wunderheilmittel, andererseits bestätigte es uns, dass diese Therapie geeignet war. Wir sprachen auch über solche Themen wie Umziehen. Ich wollte wissen, wie wichtig es für meine Mama wäre, in ihrer Heimatstadt zu leben, oder ob ein Umzug doch die bessere Variante sein könnte. Ich erinnere nicht mehr so viel von diesem Gespräch, aber der Satz „Irgendwann ist es egal, wo sie wohnen – sie suchen ihr Zuhause, finden es aber nicht mehr, auch wenn sie zu Hause sind“ hat mich lange beschäftigt. War das die Aussicht? Bislang war ich davon ausgegangen, dass das Zuhause immer ein sicherer Ort sein würde. Aber was, wenn meine Mama sich da nicht mehr wohlfühlen würde? Könnte sie es dann woanders?
Ich las über die Erfahrungen von anderen Betroffenen. Das gab mir ein bisschen Zuversicht. Zum einen zeigte es, wie konkret Menschen mit ihrer Demenz leben, und dass es ihnen auch gut geht. Bücher, die von Betroffenen selber geschrieben sind, imponierten mir besonders, denn irgendwie zeigte das ja, dass die Alzheimererkrankung vielleicht doch nicht so schlimm war. In jedem Fall merkte ich, dass Alzheimer nicht sofort Pflegeheim bedeutet. Dass sich das Leben trotz Alzheimer einfach weiterdreht.
Aber wie würde es weitergehen? Was müssten wir planen? Wie viel gemeinsame Zeit würde uns bleiben? Wie langsam oder schnell würde die Krankheit voranschreiten? Müsste Mama in ein Pflegeheim? Während ich mir diese Fragen stellte, schien meine Mama gesünder als zuvor. Ihre Augenringe und ihr Ausschlag um die Augen waren verschwunden, die sie in den vergangenen Monaten begleitet hatten. Es waren die Symptome, die uns denken ließen, dass irgendetwas nicht stimmte. An Alzheimer dachten wir allerdings nicht. Mama hatte viel gearbeitet, sie schien uns erschöpft und überarbeitet. Sie hatte sogar die Sommerferien abgewartet, um sich gründlicher untersuchen zu lassen. Sie wurde für zwei Tage ins Krankenhaus aufgenommen, aber das beunruhigte mich nicht besonders. Ich war mir sicher, dass die Ärzte die Diagnose Burn-out oder Depression stellen würden. Und ich war überzeugt, dass Ruhe und Entspannung das Einzige war, was Mama brauchen würde.
Doch nun: Alzheimer. Auch Wochen später hatte ich es noch nicht verstanden. Mama war manchmal sehr traurig, aber sie hatte auch Phasen, da war sie gelöst und fröhlich. Sagte das irgendetwas über die Prognose aus? Ich hoffte es. Mamas Arzt hatte sich sehr zurückgehalten. Auch erfahrene Ärzte könnten kaum den individuellen Krankheitsverlauf vorhersagen, meinte er. Manche Patienten leben 20 Jahre mit Alzheimer, andere nur zwei Jahre. Mit dem Medikament, so hatte Mamas Arzt erklärt, schreite die Krankheit langsamer voran. Man könne „ein bis zwei gute Jahre gewinnen“, sagte er. Aber was hieß das genau? Müsste sie für den Rest ihres Lebens diese Medikamente nehmen, für „ein gutes Jahr“? Und was war eigentlich „ein gutes Jahr“, wenn man die Krankheit Alzheimer hatte und das Vergessen und Zerfallen die Zukunft war? Mamas Leben würde sich verlängern, aber um welchen Preis? Würde sie ein schönes Leben haben können, trotz Alzheimer? Ich hatte so viele Fragen – und versuchte für mich, Antworten zu finden.
Über Alzheimer (nicht) sprechen
Ich informierte nicht nur mich, sondern auch den Rest der Familie. Ich schickte Zeitschriftenartikel an meinen Bruder und meine Eltern. Ich bestellte Broschüren über Alzheimer für sie. Es waren nicht nur medizinische Fragen, sondern auch jede Menge bürokratische, die uns beschäftigten und meinen Papa sorgten. Da war die Krankenversicherung, die die Kosten für das Medikament zunächst nicht übernehmen wollte – und wer sich damit auskennt, weiß, dass das deutlich höhere Kosten sind als eine Packung Kopfschmerztabletten. Da war ein Arbeitgeber, der diverse Atteste und Bescheinigungen forderte. Da waren weiterhin finanzielle Verpflichtungen von dem Haus meiner Eltern und die Sorge, ob und wie sie die in den kommenden Jahren begleichen könnten.
Wir sprachen viel über diese Art der Probleme und Papa fragte uns nach Rat. Wir fanden weniger Worte für unsere Gefühle und Gedanken. Und wenn wir sprachen, war da noch immer eine große Trauer und Hilflosigkeit. War es Unfähigkeit? Oder einfach der Versuch, so normal wie möglich weiterzuleben und der Alzheimererkrankung die Stirn zu bieten?
Wenige Wochen nach der Diagnose war ich auf einer Hochzeit eingeladen. Ein Studienfreund feierte und viele gute Freunde waren da, die ich aber schon länger nicht mehr gesehen hatte. Ich freute mich auf das Treffen, auch wenn ich tief innen traurig war. Ich freute mich auf die Ablenkung. Es war eine Trauung unter freiem Himmel. Es war ein Ort wie in einem Märchen, auf einer kleinen Anhöhe inmitten einer Klosterruine umsäumt von Bäumen. Es hatte etwas Magisches. Ich genoss es, meine Freunde so glücklich zu sehen. Aber nach ein paar Minuten fühlte es sich wie eine Trauerfeier an. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass es wie auf einer Beerdigung war, und von da an dachte ich nur noch an meine Mama. Ich konnte mich den ganzen Tag nicht mehr richtig entspannen. Auf dem Fest waren jede Menge Freunde, aber nur meine beste Freundin und mein Mann wussten von der Krankheit meiner Mama. Ich wollte den anderen nicht davon erzählen, wie es mir ging, und antwortete mit Banalitäten, wenn mich jemand fragte, wie es mir gehe und was ich so mache. Ich wollte nicht die Feier zerstören, vor allem wollte ich nicht weinen. Ich wollte einfach mal wieder fröhlich und unbeschwert sein.
Wie soll es weitergehen? Was heißt Alzheimer genau? Wir alle machten uns diese Gedanken, jeder machte sie mit sich aus. Dass Mama Alzheimer hat, erzählten meine Eltern nur engen Freunden und im Familienkreis. War es Scham oder Sorge, dass sie nicht weiter damit in die Öffentlichkeit gingen? Die Reaktionen auf Mamas Krankheit waren ganz unterschiedlich, aber sie zeigten, dass es den meisten unfassbar schwerfiel, damit umzugehen. Der Großteil sprach meiner Mama gegenüber liebe Worte aus, immer rücksichtsvoll und mit Vorsicht. Aber so mancher fand keine Worte. Meine Oma etwa, also die Mutter meiner Mama, sprach nicht darüber. Natürlich, auch sie hatte sich Sorgen um Mama gemacht, aber zwischen ihnen herrschte nicht diese zärtliche Nähe, die zwischen mir und meiner Mama immer war, und daran änderte auch die Diagnose Alzheimer nichts. Aber meine Oma und ich, wir waren uns immer nah gewesen. Wenn ich sie besuchte, versuchte ich die Vermittlerrolle zu übernehmen und erklärte, was Alzheimer ist. Ich hoffte, dass sie nicht nur verstehen würde, sondern dass meine Mama und ihre Mama einen Weg zueinander finden würden. Wenn ich meine Oma besuchte, brachte ich ihr Zeitschriften mit und erzählte von anderen Menschen, die Alzheimer haben. Meine Oma fragte wenig. War ihr bewusst, was Alzheimer war? Oder wollte sie nicht verstehen? Kam sie vielleicht gar nicht mit der Tatsache klar, dass ihre Tochter erkrankt war und sie, die doch viel älter war, bei bester geistiger Gesundheit? Mir fiel es ja schon schwer zu akzeptieren, dass meine Mama Alzheimer hatte, wie sollte es dann einer Mutter gehen, deren Tochter erkrankt ist? Was für eine verfehlte Laune der Natur.
Ich lenkte mich ab. Ich arbeitete viel. Ich wollte ganz dringend ein zweites Kind. Weil es ein Stück Normalität wäre inmitten der schrecklichen Diagnose, die auch mich getroffen hatte. Ich hoffte, dass es ganz schnell klappen würde mit dem Schwangersein, auch, damit meine Mama noch viel Zeit als Oma hätte. Damit sie eine Oma sein könnte, eine die kocht, spielt, strickt, vorliest – eine Oma, die sich kümmern kann, und nicht eine, um die man sich kümmert.
Mein Wunsch wurde wahr. Es waren keine drei Monate nach der Diagnose meiner Mama vergangen – und ich war schwanger. Die Zweifel kamen sofort: Wie sollte das werden mit dem Baby? Kann ich mich um Mama und Papa kümmern, wenn ich zwei Kinder habe? Durfte ich das überhaupt und war es nicht egoistisch, mein Leben weiterzuleben, wenn doch klar war, dass meine Eltern Hilfe bräuchten? Ich hatte Schuldgefühle deswegen und die Zweifel nagten an mir. Als ich von der Schwangerschaft erzählte, wurde das besser. „Ich freue mich so, dass du dich trotzdem getraut hast“, jubelte meine beste Freundin. Wie würden meine Eltern reagieren? Würden sie enttäuscht sein, dass ich sie im Stich lasse und ein Kind bekomme? Ich weiß nicht, warum ich das dachte, denn Papa hatte immer klargemacht, dass wir unser Leben weiterleben und uns nicht wegen ihnen einschränken sollten. Aber dennoch: Ich machte mir viele Gedanken