Maßmenschen. Ernst Schwenk

Maßmenschen - Ernst Schwenk


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diesen technischen Bezeichnungen verbergen? Wer war Graf Volta, wo hat Mister Watt gelebt, welche Erfindung verdanken wir Monsieur Ampère? Wer erinnert sich aus dem Physikunterricht noch an die Namen Hertz, Kelvin, Coulomb und Tesla? Und warum wurde die gute alte Kalorie durch die schwer aussprechbare Maßeinheit »Joule« ersetzt?

      Dieses Buch beschreibt das Leben und Wirken von 19 Physikern, Ingenieuren und Erfindern, die bedeutende Beiträge für den Siegeszug der Technik geleistet haben. Bei der Festlegung der Maßeinheiten hat man ihre Verdienste gewürdigt, indem wichtige Einheiten nach ihren Namen benannt wurden. So erhielten sie posthum ein Denkmal der besonderen Art.

      Das Internationale System der Maßeinheiten (SI-Einheiten) wurde in den Jahren 1969 bis 1985 von Wissenschaftlern und Experten der führenden Industriestaaten erarbeitet. Es ist inzwischen in fast allen Ländern der Erde gesetzlich eingeführt. Für die Weltwirtschaft hat das neue Maßeinheitensystem eine enorme Bedeutung. Die Verständigung in Wissenschaft, Technik und Handel auf dem Gebiet des Meßwesens ist damit über alle Grenzen hinweg erheblich vereinfacht. Die komplizierten Umrechnungen entfallen. Prüfgeräte, Prüfmethoden und Normen wurden vereinheitlicht, Handelshemmnisse beseitigt. Was die Maßeinheiten angeht, spricht man heute rund um den Erdball dieselbe Sprache.

      Dieses Buch soll an die großen Pioniere der Technik erinnern und den von ihren Namen abgeleiteten technischen Begriffen einen menschlichen Hintergrund verleihen. Vor den Augen des Lesers entfaltet sich ein buntes Kaleidoskop denkwürdiger Ereignisse der Technikgeschichte. Er erlebt die Anfänge der Elektrizität und der Fernmeldetechnik, er erfährt, durch welche Zufälle die Radioaktivität entdeckt wurde und was zur Erfindung der Dampfmaschine geführt hat. Die Bewunderung für die Erfindungsgabe der Technikpioniere mischt sich mit dem Staunen über ihre Phantasie und Genialität.

      Das Buch enthält im Anhang Kurzbiographien früherer Namensgeber von Maßeinheiten, beispielsweise von Marie Curie, Carl Friedrich Gauß und Evangelista Torricelli, ferner Informationen über die Namensgeber SI-fremder, aber häufig verwendeter Maßeinheiten: die bekannten Oechsle-Grade, die Erdbebenskala nach Richter, die Skala der Windgeschwindigkeit nach Beaufort usw. Für geschichtsinteressierte Leser, Historiker und Heimatforscher dürfte das ausführliche Verzeichnis alter Maßeinheiten aus dem deutschsprachigen Raum von besonderem Interesse sein.

      Den Lesern dieses Geschichtenbuches wünsche ich Bereicherung, Erkenntnisgewinn und Lesevergnügen.

      Ernst Schwenk

      Das vorliegende Werk ist eine vollständig überarbeitete und erheblich erweiterte Neuauflage des 1993 bei dtv erschienenen Buches Mein Name ist Becquerel. Das Buch wurde 1995 vom »Deutschen Verband Technisch-Wissenschaftlicher Vereine« (DVT) mit dem DVT-Preis »Technik und Öffentlichkeit« ausgezeichnet.

      König Heinrichs Nasenspitze

      Ein Streifzug durch die Geschichte des Meßwesens

      Wann lernte der Mensch das Messen? Vielleicht noch vor dem Sprechen. Im Kampf ums Überleben konnte der Homo erectus nur bestehen, wenn er die Wassertiefe des Flusses, die Höhe des Felsens, die Entfernung des Wildes richtig einzuschätzen wußte. Der Mensch mußte lernen, seine eigene Körperkraft an der Kraft seines Feindes zu messen, er mußte die Zeit taxieren können, die ihm nach der Jagd noch verblieb, um vor Einbruch der Dunkelheit sein Lager zu erreichen.

      Daumenbreite, Schrittweite und Handspanne

      Solange die Menschen der Vorzeit nur für ihren eigenen Bedarf jagten, fischten oder Früchte sammelten, bestand für sie kein Anlaß, sich über Begriffe wie Länge und Zeit, Gewicht und Volumen zu verständigen. Erst als der Mensch zu tauschen und zu handeln begann, gewannen definierte Maße und Gewichtseinheiten an Bedeutung. Eine Übereinkunft zwischen Käufer und Verkäufer über die zugrunde gelegte Maßeinheit war eine unumgängliche Voraussetzung für den friedlichen Warenaustausch. Was lag näher, als den Maßstab zu benutzen, den man immer bei sich trug, nämlich die Maße des eigenen Körpers? Die Breite des Daumens, die Länge des Schritts, die Handspanne, das waren gemeinverständliche Einheiten des Längenmaßes. Was zwei Hände an Getreidekörnern fassen konnten, bildete die Grundlage für das Volumenmaß. Die Sumerer und Chaldäer sprachen bereits vor Jahrtausenden von Daumenbreite (Zoll) und Armspanne, sie kannten die Maßeinheiten Tagwerk, Becher und Eimer. Die ägyptische Hieroglyphe für die Einheit »Elle« war der abgewinkelte Unterarm. 180 Getreidekörner, genau abgezählt, waren die Grundeinheit für das Gewicht. Gut ausgebildet war auch das Meßwesen der Römer. Ihr System der Längenmaße reichte von der Meile (milia = 1000 Doppelschritte) über Stadie, Schritt, Fuß bis zur Fingerlänge. Von den holländischen Kolonisten stammt die Gewichtseinheit »Karat« für Gold und Edelsteine. Ein Karat entsprach dem Gewicht eines Samenkorns vom Johannisbrotbaum.

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      Schon die alten Ägypter benutzten eine zweischalige Balkenwaage (Totenbuch der 18. ägyptischen Dynastie, ca. 1300 v. Chr.)

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      König Heinrich I. von England. Seine Körpermaße werden in den angelsächsischen Ländern noch heute benutzt – für das Yard

      Daß eine Maßeinheit für jedermann verständlich war, bedeutete noch lange nicht, daß sie auch von allen anerkannt wurde. Wollte der kleinwüchsige Tuchhändler dem großgewachsenen Kunden zehn Ellen Stoff verkaufen, kam es fast zwangsläufig zum Streit. Wessen Elle sollte gelten? Nur einer konnte das entscheiden: der Souverän des Landes. Und dieser wählte natürlich diejenigen Maßeinheiten, die ihm am nächsten lagen, nämlich die seines eigenen Körpers. Um das Jahr 800 war der königliche Fuß Karls des Großen das Längenmaß, nach dem sich seine Untertanen zu richten hatten. In weiser Voraussicht, daß er eines Tages sein »Urmaß« mit ins Grab nehmen würde, bestimmte König Heinrich I. von Sachsen um das Jahr 900 die Länge seines goldenen Zepters als Standard für die sächsische Elle. Aber das war die Ausnahme. Sein Namensvetter, König Heinrich I. von England, ging wieder von seinen eigenen Körpermaßen aus: Im Jahr 1101 befahl er seinen Höflingen, die Entfernung zwischen seiner Nasenspitze und dem Daumennagel bei ausgestrecktem rechtem Arm »exakt« zu vermessen. Die Länge dieser »Meßrute« ist noch heute in den angelsächsischen Ländern gültig und dort weit beliebter als das Meter. Es ist das Yard (1 yd = 0,9144 m).

      Jedem Ländchen sein eigen Quentchen

      In anderen Ländern herrschte weniger Traditionsbewußtsein. Wenn die Landesfürsten wechselten, änderten sich meist auch die Einheitsmaße. In deutschen Landen war die Verwirrung wohl am größten. Hier hatte fast jede Stadt, jede Grafschaft, jeder Marktflecken seine eigenen Maße und Gewichte, also »jedes Ländchen sein eigen Quentchen« (1 Quentchen = ca. 1,66 g). Kaufleute und Zünfte sahen in dem lokalen Maß- und Gewichtssystem keineswegs immer einen Nachteil, so waren sie vor auswärtiger Konkurrenz besser geschützt. »Das rechte Maß« – also das in der betreffenden Stadt anzuwendende – wurde im Rathaus aufbewahrt, für den Fall, daß Streitereien vor Gericht zu schlichten waren. Noch heute ist an der Außenmauer vieler Rathäuser die für die Tuchhändler gültige Elle eingemauert, ein Eisenstab von 57 bis 69 cm Länge.

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      Festlegung der Maßeinheit: »Rute« (12 Fuß): »16 Mann groß und klein, wie sie aus der Kirche kommen, stellen die Schuh voreinander.« So findet man die »gerecht gemeyn Meßrut«. Holzschnitt 1575

      Manchmal diente das Maßsystem auch dazu, die Kalkulation etwas freundlicher zu gestalten: Indem man die Elle etwas kürzer, die Pfunde etwas leichter machte, konnte man die Teuerung elegant verschleiern. Das hatte zur Folge, daß auf dem Gebiet des Meßwesens bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ein heilloses Durcheinander herrschte. Um 1800 gab es in dem kleinen Herzogtum Baden nicht weniger als 112 verschiedene Ellen, 92 Flächenmaße, 65 Holzmaße, 163 Getreidemaße, 123 Oehme und Eimer, 63 Schenkmaße und 80 verschiedenwertige Pfunde. Kleinstaaterei und Eigenbrötelei wurden für den grenzüberschreitenden Handel zum unüberwindlichen Hindernis.

      Der


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