Maßmenschen. Ernst Schwenk

Maßmenschen - Ernst Schwenk


Скачать книгу
Fachgebiets benannt. Damit führte man eine alte Tradition fort. Bereits 1893 hatte der Internationale Elektrikerkongreß in Chicago beschlossen, den Maßeinheiten des elektrischen Widerstands, der Stromstärke und der Spannung die Namen der großen Pioniere Ohm, Ampère und Volta zu verleihen. Diese Namensgebung hat sich bis heute erhalten, auch wenn ihre Definition bzw. Bedeutung inzwischen mehrfach verändert werden mußte.

      Nach der Umsetzung der internationalen Vereinbarungen auf dem Gebiet des Meßwesens in das jeweilige Landesrecht gilt in den europäischen Ländern die internationale Norm ISO 1000, in Deutschland und einigen anderen Ländern beschreibt die Deutsche Industrie Norm DIN 1301 die heute gültigen Maßeinheiten.

      »Das neue Maß« wurde zur Grundlage des internationalen, metrischen, dezimalen Maßsystems. Nahezu alle Staaten der Welt verwenden heute das Système International d’Unités. In der Praxis hat sich dafür ein von der jeweiligen Landessprache unabhängiges Kurzzeichen durchgesetzt: SI. Der große Vorteil dieses Systems: Sämtliche Umrechnungsfaktoren fallen weg. Alle abgeleiteten Einheiten sind mit den Basiseinheiten ausschließlich über Multiplikation und Division verbunden.

      Damit hat die jahrhundertelange Suche nach einem weltweit einheitlichen System ein glückliches Ende gefunden. Das chaotische Durcheinander bei den Maßeinheiten ist beendet. Das einst von den französischen Revolutionären erträumte Ziel eines »für alle Zeiten, für alle Völker« gültigen Längenmaßes namens »Meter« ist nicht nur erreicht, sondern weit übertroffen. Heute mißt alle Welt alles, was meßbar ist, mit den gleichen Maßen.

      Ein findiger Wirrkopf

      André Marie Ampère (1775–1836), Mitbegründer der Elektrodynamik

image

      André Marie Ampère, französischer Physiker * 22. Januar 1775 in Lyon10. Juni 1836 in Marseille

      Immer wenn in der Welt eine Sicherung durchbrennt, wird seiner gedacht. Für wieviel Ampere war der Stromkreis abgesichert? Aber kaum einer fragt heute noch, woher dieser terminus electrotechnicus kommt und wer der Maßeinheit Ampere den Namen gegeben hat.

      Der Blick zurück auf das Leben des fast vergessenen Namengebers führt in eine dunkle Periode der Geschichte. In der Jugendzeit von André Marie Ampère waren in Europa noch die Monarchen an der Macht. Es herrschte Willkür und Feudalismus, die Menschen waren bettelarm, dauernd wurde irgendwo Krieg geführt. Dunkel war es aber auch nächtens auf den Straßen, in den Zimmern der Bürgerhäuser. Das trübe Licht der Ölfunzeln gehörte bereits zum gehobenen Wohnkomfort. Elektrizität war nur das, »was die Froschschenkel zum Zucken bringt«. Ampère sollte einen wichtigen Beitrag dafür liefern, daß 100 Jahre später die elektrische Kraft Maschinen antrieb und Glühbirnen zum Leuchten brachte.

      Wer war der Mensch, nach dem heute die Maßeinheit der elektrischen Stromstärke benannt ist?

       Die SI-Einheit Ampere

      Ampere ist die Basiseinheit der elektrischen Stromstärke.

      Definition: Das Ampere (A) ist die Stärke eines zeitlich unveränderlichen elektrischen Stromes, der, durch zwei im Vakuum parallel im Abstand 1 Meter angeordnete, geradlinige, unendlich lange Leiter von vernachlässigbar kleinem, kreisförmigem Querschnitt fließend, zwischen diesen Leitern je 1 Meter Leiterlänge die Kraft 2 x10–7 Newton hervorrufen würde.

      Anmerkung: Das auf dem Personennamen liegende Akzentzeichen è fällt bei der SI-Einheit weg. Gelegentlich wird zur Vermeidung von Verwechslungen auch die Abkürzung »Amp« anstelle des Zeichens A verwendet.

      Als Sohn des wohlhabenden Seidenhändlers Jean-Jacques Ampère kam André Marie am 22. Januar 1775 in Lyon zur Welt. Als der Junge sieben Jahre alt war, zog die Familie in ihren luxuriös eingerichteten Landsitz im Bergdörfchen Poleymieux. Weil es in der Umgebung keine Schule gab, kümmerte sich der Vater um die Bildung des Sohnes. Er unterrichtete ihn in Sachkunde, Philosophie und Religion. Lesen und Schreiben brachte sich der intelligente Junge selbst bei. Bereits mit zwölf Jahren lernte er die Gesetze der Algebra aus eigener Initiative. Unermüdlich las er alle wissenschaftlichen Bücher, die ihm in die Hände kamen. Einen besonders nachhaltigen Eindruck machte auf ihn die fünfunddreißigbändige Enzyklopädie von Diderot, in der alle damals bekannten Wissensgebiete in Wort und Bild ausführlich beschrieben waren. Noch im Alter kannte er ganze Kapitel dieses Werkes auswendig.

      Mit dreizehn Jahren verblüffte André Marie die Académie de Lyon mit einem Lösungsvorschlag für die Quadratur des Kreises. An diesem Problem hatten sich schon ganze Generationen von Mathematikern die Zähne ausgebissen. Zwar stellte sich Andrés Lösung später nach eingehender Prüfung als unrichtig heraus, doch hier zeigte sich schon, aus welchem Holz dieser Junge geschnitzt war. Die lateinische Sprache erlernte er in wenigen Wochen ohne fremde Hilfe. Weil der 14jährige Schwierigkeiten mit der Integration partieller Differentialgleichungen hatte, nahm er Privatunterricht an der Universität von Lyon. Nebenbei belegte er Vorlesungen in Physik und Biologie und entwarf eine Universalsprache auf logischer Basis, ein Vorläufer des Esperanto.

      Tod auf dem Schafott

      So schien der Lebensweg des jungen André Marie eigentlich schon vorgezeichnet: Er würde die Universität besuchen und später ein stiller Gelehrter werden, der sein Leben zwischen dicken Büchern und verstaubten Herbarien verbringt. Doch das Schicksal wollte es anders. Die Funken der französischen Revolution sprangen auch nach Lyon über. Vater Ampère setzte sich in der ehrenamtlichen Funktion eines Friedensrichters für die königstreuen Girondisten ein und sorgte dafür, daß dem Führer der aufständischen Jakobiner der Prozeß gemacht wurde. Doch plötzlich waren es die Jakobiner, die in Lyon die Macht übernahmen. Der angesehene Seidenhändler wurde verhaftet, vor das Revolutionstribunal gezerrt und nach kurzem Prozeß auf dem Schafott hingerichtet.

      Der 18jährige Sohn erlitt einen schweren Schock. In der Trauer um seinen Vater verfiel André in völlige Apathie. Ein ganzes Jahr lang las er keine einzige Zeile mehr, statt dessen spielte er stundenlang wie ein Kleinkind im Sand. Erst durch die Lektüre der Oden von Horaz wurden seine Lebensgeister wieder geweckt – und durch die Liebe zu einem Mädchen aus dem Nachbardorf, das er beim Blumenpflücken getroffen hatte. Drei Jahre warb er um seine Julie, er besang sie in italienischen Versen und widmete ihr seine schwärmerischen Tagebuchnotizen. Doch Julie Caron, Tochter aus gutem Hause, durfte ihn nicht erhören, solange sich der junge Mann nicht zu geregelter Arbeit aufraffen konnte. Erst als Ampère die Stelle eines Privatlehrers für Mathematik übernahm, durfte Hochzeit gefeiert werden. Ein Jahr später wurde ein Sohn geboren. Die glücklichen Eltern gaben ihm den Namen des hingerichteten Großvaters: Jean-Jacques.

image

      Die Ecole Polytechnique in Paris (beim Besuch von Napoleon 1815). Hier hatte Ampère eine schlechtbezahlte Stelle als Hilfslehrer inne

      Feuersglut im Herzen

      Schon ein Jahr später – Ampère war inzwischen Professor für Physik an der Zentralschule in Bourg-en-Bresse geworden – starb die junge Frau an Tuberkulose. Verzweifelt und mutlos wollte der erst 28jährige André aus dem Leben scheiden oder in ferne Länder auswandern. Auf gutes Zureden der Familie nahm er schließlich die Stelle eines répetiteur an der Ecole Polytechnique in Paris an, die erbärmlich schlecht bezahlt war. Diese Arbeit füllte ihn bei weitem nicht aus, doch ließ sie ihm wenigstens Zeit, sich mit Fragen der Philosophie und der Religion zu befassen. Auch von ungelösten Problemen aus den Fachgebieten Biologie und Chemie, aus der Astronomie und Psychologie wurde er wochenlang gefesselt. Immer wieder überwältigt von neuen Ideen, aber unfähig, sich auf eine Sache ganz zu konzentrieren, ließ er sich von einem Thema zum anderen treiben. Nächtelang brütete er über einer mathematischen Formel, stundenlang erklärte er andern das Weltsystem. Freunde sagten von ihm, er habe stets »eine Feuersglut im Herzen« gehabt. Ein Biograph beschrieb Ampères Naturell so: »Sein gewaltiger Geist war wie ein bewegtes Meer, plötzlich türmten sich die Wellen empor, schwimmende Korken


Скачать книгу