Maßmenschen. Ernst Schwenk
Revolution ausbrach. Zu den feudalen Hinterlassenschaften gehörten auch die am Körper des französischen Königs abgenommenen Maßeinheiten toise (Armspanne, Klafter), pied (Fuß) und pouce (Daumen, Zoll). Mit solchen Relikten der verhaßten Monarchie wollten die Jakobiner nun gründlich aufräumen. Künftig sollte die Erdkugel das Maß aller Dinge sein. Auf die unvergängliche, maßstabile Erde, den gemeinsamen Wohnsitz aller Menschen, würden sich die Völker wohl am ehesten einigen können, so hofften die Revolutionäre.
Die Französische Akademie der Wissenschaften bekam von der Nationalversammlung den Auftrag, ein neues, weltweit anwendbares Maßsystem auszuarbeiten. Ein Jahr später legten die Gelehrten ihr Gutachten vor: Der zehnmillionste Teil des Erdmeridianquadranten zwischen Nordpol und Äquator sollte die Grundeinheit des neuen Maßsystems sein und die Bezeichnung »Meter« erhalten (abgeleitet vom griechischen Wort metron, das Maß). Noch wichtiger: Alle Vielfache und Teile des Meters sollten künftig in Zehnerschritten, also dezimal, gebildet werden. Das war die Geburt des metrisch-dezimalen Systems.
Die bedeutendsten Astronomen Frankreichs, Jean Baptiste Delambre, Mitglied des neuerrichteten Bureau des longitudes, und Pierre François Méchain, Direktor des Pariser Observatoriums, begannen am 17. Juni 1792 den durch das Observatorium von Paris verlaufenden Meridian auf der Strecke zwischen Dünkirchen und Barcelona mit ihren Theodoliten zu vermessen. Ein mühsames und gefährliches Unterfangen. Die Expeditionsteilnehmer hatten nicht nur zahlreiche bürokratische Hindernisse zu überwinden und große Strapazen zu erdulden, mehrfach landeten sie wegen Spionageverdachts im Kerker. Die Vermessung wurde erst nach sieben Jahren zum Abschluß gebracht. Am 22. Juni 1799 präsentierte eine internationale Kommission von Experten, die mit ihrem Namen für die Richtigkeit der Messungen bürgten, der Französischen Nationalversammlung das Ergebnis. Auf einem purpurroten Samtkissen trug der Zeremonienmeister einen Stab von x-förmigem Querschnitt aus funkelndem Platin feierlich in die erlauchte Versammlung. »Bürger von Frankreich, erhebt Euch, hier ist das neue Längennormal, das Urmeter! Seine Größe beträgt 3 Fuß, 11 296 Teilstriche der Toisen du Pérou. Ein neues Zeitalter beginnt! A tous les temps, à tous les peuples!« Seit diesem Tag wird das »für alle Zeiten, für alle Völker« gültige metrische Urmaß streng bewacht in einem acht Meter tiefen Felsentresor unter dem Landschloß von Breteuil bei Paris, am Rande des Parks von Sèvres, aufbewahrt.
Ein Volksaufstand erzwingt die Abschaffung des Meters
Hatten die französischen Behörden geglaubt, die Welt würde sich nun jubelnd auf das neue, von Menschenwillkür unabhängige, unveränderliche und so viel einfachere französische Maßsystem stürzen, so täuschten sie sich. Nicht einmal ihr eigenes Volk wollte vom metrischen System etwas wissen. Obwohl das Parlament per Dekret die sofortige Einführung des Meters verordnete und jeden mit Strafe bedrohte, der es wagen sollte, seine Waren weiterhin nach den alten royalistischen Maßen anzubieten, scherten sich Frankreichs Bürger einen Teufel darum. Unbeirrt verwendeten sie weiter ihre liebgewonnenen Maße toise, pied und livre. Als die Behörden das metrische Maßsystem mit Gewalt durchsetzen wollten, weitete sich die Ablehnung zum Volksaufstand aus. Napoleon mußte seinem Volk den Gebrauch der alten Einheiten wieder gestatten. Sein Nachfolger Ludwig XVIII. sah sich sogar gezwungen, die metrische Messung bei Strafe zu verbieten. Erst im Jahr 1840 konnte sich das neue Maßsystem in Frankreich endgültig durchsetzen.
Die Bürger Frankreichs werden über die neuen metrischen Maße aufgeklärt (Kupferstich um 1800). Das nützte jedoch wenig, das Metersystem wurde vom Volk entschieden abgelehnt
Auch andere Staaten hatten ihre Probleme, das metrische System einzuführen. Als erstes Land stellten im Jahr 1816 die Niederlande um, es folgten Panama und Chile. In der Schweiz wurde das neue System 1868 legalisiert, in Österreich-Ungarn 1871. Im folgenden Jahr ersetzten auch die Deutschen ihre unzähligen landestypischen Maße durch das Meter als Längen- und das Gramm als Gewichtseinheit. Noch länger zögerten andere Länder: Die Sowjetunion folgte 1919, Japan fünf Jahre später, Ägypten und Indien erst nach dem Zweiten Weltkrieg und Kuba 1961. Am schwersten taten sich die angelsächsischen Länder. England hat erst am 1.1.2002 auf das metrische System umgestellt. In den Vereinigten Staaten haben sich die metrischen Maßeinheiten zwar in der Wissenschaft inzwischen weitgehend durchgesetzt. Im Privatleben mag sich der Durchschnittsamerikaner jedoch von den altgewohnten Maßen inch, foot, mile und gallon nur höchst ungern trennen, er empfindet das metrische Maßsystem schlicht als »unamerican«.
Das Büro im Park von Saint-Cloud
Mit der Industrialisierung vollzog sich in Europa und Amerika ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein epochaler Wandel in Wirtschaft und Technik. Die Dampfmaschine nahm dem Menschen die Schwerarbeit ab, Telegraf und Telefon erlaubten die Kommunikation über weite Entfernungen, die Elektrizität hielt Einzug in die meisten Haushalte. Physik und Chemie, Mathematik und die Ingenieurwissenschaften begannen das hergebrachte Weltbild radikal zu verändern. Die weltweite technische Zusammenarbeit verlangte zwingend eine internationale Übereinkunft auf dem Gebiet des Meßwesens. Nicht nur die auf dem metrischen System beruhenden Längen-, Flächen- und Volumenmaße – daraus abgeleitet die Maßeinheiten des Gewichts und der Masse – mußten in allen Industriestaaten vereinheitlicht werden. Neue Gebiete, vor allem das der Elektrizität, erforderten die Festlegung zusätzlicher Maßeinheiten.
Ein erster großer Schritt in Richtung auf ein international gültiges System der Maßeinheiten war die im Jahr 1875 abgeschlossene »Meterkonvention«, an der sich zunächst siebzehn Staaten beteiligten. Sie hatte das Ziel, »die internationale Einigung und die Vervollkommnung des metrischen Systems zu sichern«. In dem Vertrag verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zur Einrichtung und Unterhaltung eines wissenschaftlichen Institutes, des Internationalen Büros für Maß und Gewicht (BIPM). Bis heute befindet sich dieses Büro im Park von Saint-Cloud bei Paris. Mit Argusaugen wacht es über die Einheitlichkeit der physikalischen Maßeinheiten und bereitet die alle vier Jahre stattfindende Generalkonferenz des Internationalen Komitees für Maß und Gewicht (CGPM) vor.
Das Ende der Pferdestärke
Das Büro im Park von Saint-Cloud hat zwei wichtige Aufgaben. Einmal soll es die moderne Version des metrischen Systems, das Internationale Einheitensystem, weiterentwickeln. Zum anderen muß es die zahlreichen alten, nichtgesetzlichen Maßeinheiten dahin befördern, wo sie hingehören: in die Rumpelkammer des Meßwesens. Elle und Rute, der Scheffel und die Postmeile sind längst schon dort gelandet, und niemand weint ihnen eine Träne nach. Die Gewichtsmaße Pfund und Zentner sind im Handel nicht mehr gestattet. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die (bisher noch erlaubten, eher verwirrenden) Doppelbezeichnungen wegfallen, zum Beispiel die Angabe »263 kJ / 63 kcal« in den Nährwerttabellen. Kaum ein Autobesitzer wird sich bei der Angabe der Motorleistung »55 KW / 75 PS« im Kraftfahrzeugbrief beide Zahlenwerte merken und den Umrechnungsfaktor 1 PS = 735,49875 W schon gar nicht. Warum auch sollte er die Stärke des Automotors mit der Stärke eines Pferdes vergleichen? James Watt hatte seinerzeit die Bezeichnung »Pferdestärke« doch nur deshalb gewählt, weil seine ersten Dampfmaschinen die Zugpferde in den Kohlengruben ersetzen sollten.
Das BIPM hat weiter die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die lokalen und länderspezifischen Einheiten durch Maßeinheiten ersetzt werden, die in allen Staaten der Erde in gleicher Weise verstanden und angewendet werden. Auf der 10. Generalkonferenz des CGPM im Jahr 1954 legten die Vertreter aller 40 Staaten, die bis zu diesem Zeitpunkt der Konvention beigetreten waren, zunächst sieben SI-Basiseinheiten fest, nämlich
das Meter (m) als Einheit der Länge
das Kilogramm (kg) als Einheit der Masse
die Sekunde (s) als Einheit der Zeit
das Ampere (A) als Einheit der elektrischen Stromstärke
das Kelvin (K) als Einheit der thermodynamischen Temperatur
das Mol (mol) als Einheit der Stoffmenge und
die Candela (cd) als Einheit der Lichtstärke
Zwischen 1969 und 1983 einigten sich die