Maßmenschen. Ernst Schwenk

Maßmenschen - Ernst Schwenk


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1806 mit der lebenslustigen, etwas liederlichen Jeanne Potot geschlossen, erwies sich als Katastrophe. Nach wenigen Jahren war er wieder allein. Die Aufgabe, für den Sohn aus erster und die Tochter aus zweiter Ehe zu sorgen, überforderte den grüblerischen und in praktischen Dingen völlig hilflosen Gelehrten. Mutter und Schwester kamen nach Paris und übernahmen die Haushaltsführung.

      Zerstreuter Professor

      Mit der Ernennung zum Generalinspekteur der Universität Paris im Jahr 1808 waren wenigstens die drängenden materiellen Sorgen behoben. Die mit dem hohen Amt verbundenen Verpflichtungen erfüllte der zerstreute Professor mehr schlecht als recht. Seinem Wesen entsprechend beschäftigte er sich mit Dutzenden von Fragestellungen gleichzeitig: mit dem ungelösten Problem des Parallelenaxioms, mit der Anwendung der Variationsrechnung in der Mechanik, mit der Integration partieller Differentialrechnungen. Arbeiten über die Atomistik, den Bau der Kristalle, die Theorie der Gase und das Boyle-Mariottesche Gesetz schlossen sich an. Mit dem englischen Chemiker Sir Humphry Davy (1778–1829) führte er jahrelang einen Briefwechsel über die chemische Natur der Halogene Chlor, Fluor und Jod und ihre Einordnung in eine homologe Reihe. Eine Zeitlang verschrieb er sich der spekulativen Philosophie, in der Hoffnung, auf diesem Wege schwierige naturwissenschaftliche Probleme besser lösen zu können. Die Vielzahl seiner Interessen und der wenig effektive Arbeitsstil verhinderten zunächst, daß er in irgendeiner Disziplin herausragende Leistungen erzielen konnte.

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      Mit diesem Instrument wies Ampère 1822 die elektromagnetische Induktion nach

      Dies sollte sich mit einem Schlage ändern. Im Juli des Jahres 1820 erfuhr Ampère beiläufig von der Beobachtung des dänischen Physikers Hans Christian Ørsted (1777–1851), daß eine Magnetnadel durch einen stromdurchflossenen Leiter abgelenkt wird. Dieses nebensächliche, von anderen Physikern bis dahin kaum beachtete Phänomen faszinierte den versponnenen Gelehrten so sehr, daß er alle anderen Arbeitsgebiete vernachlässigte und sich nur noch mit einer Frage beschäftigte: Welche Wechselwirkung besteht zwischen Magnetismus und elektrischem Strom? Er machte Hunderte von Versuchen, um ganz sicher zu sein. In größter Hast – diesmal wollte er endlich der erste sein, der eine wissenschaftliche Neuigkeit verbreitete – schrieb er zwei Aufsätze, die sich mit der bewegten Elektrizität als Quelle der magnetischen Wirkungen befaßten. In einem Vortrag vor der Französischen Akademie der Wissenschaften berichtete Ampère am 25. September 1820 über die Wechselwirkung zweier stromdurchflossener Leiter: Gleichgerichtete Ströme ziehen sich an, entgegengesetzt gerichtete stoßen sich ab. Er zeigte, daß sich eine stromdurchflossene Drahtspule wie ein Stabmagnet verhält, und bewies damit, daß die bewegte Elektrizität den Magnetismus erzeugt. Ampère stellte zum erstenmal einen Zusammenhang her zwischen zwei physikalischen Erscheinungen, die man bis dahin für völlig unabhängig gehalten hatte.

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      Die von Ampère aufgestellte »Schwimmer-Regel«: Ein Schwimmer, der mit dem Strom schwimmt, zeigt mit der rechten Hand in die Richtung, in die der Nordpol des Magneten abgelenkt wird

      Den Elektromagnetismus erforscht

      Volle sieben Jahre hielt ihn dieses Phänomen gefangen. In dieser Zeit entwickelte der Wissenschaftler, dem Elektrizität und Magnetismus bis dahin ziemlich fremd gewesen waren, ein völlig neues und bedeutendes Teilgebiet der Physik: das theoretisch und experimentell abgesicherte Gebäude des Elektromagnetismus.

      In diesen sieben fruchtbaren Jahren stellte Ampère eine Fülle von Theorien auf, so die Hypothese der »Ampèreschen Molekularströme«, wonach jedes Molekül von ringförmigen Strömen umgeben sein sollte, deren mikroskopisch kleine Wirkungen sich zum makroskopischen Magnetismus addieren. Diese Annahme war zunächst sehr umstritten. Mehr als hundert Jahre später war jedoch der Beweis erbracht, daß Ampères Vorstellungen prinzipiell richtig waren: Der Ferromagnetismus setzt sich aus den Spinmomenten der Elektronen zusammen. Große Bedeutung gewann ein von Ampère entwickeltes Meßinstrument, bei dem eine frei beweglich angebrachte Magnetnadel die Stromstärke anzeigte. Es wurde später in verbesserter Form als Galvanometer bezeichnet und ist noch heute eines der wichtigsten Meßinstrumente der Elektrotechnik.

      In seinem großen, abschließenden Werk Über die mathematische Theorie elektrodynamischer Erscheinungen, allein aus dem Experiment abgeleitet entwickelte André Marie Ampère 1826 eine umfassende Theorie der elektrischen Erscheinungen. Hier formulierte er erstmals die noch heute gültigen Begriffe »Strom« und »Spannung«, hier beschrieb er die Wirkungsweise des Galvanometers und des Elektromagneten. In Anspielung auf Newtons Grundlagenwerk über die Mechanik Principia erhielt Ampères Werk später den Ehrentitel Principia der Elektrodynamik.

      Die gequälte Seele

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      So sah sich Ampère selbst

      In den letzten Jahren seines Lebens kehrte der unruhige Geist zu seinen alten Gewohnheiten zurück. Sein Arbeitsstil wurde wieder unsystematisch. Von plötzlichen Eingebungen gepackt, wechselte Ampère sprunghaft von einer Fragestellung zur anderen. Unter dem Eindruck von Emanuel Kants Kategorienlehre Kritik der reinen Vernunft setzte er sich mit er kenntnistheoretischen Betrachtungen auseinander. Ein Zeitgenosse charakterisierte den wunderlichen Gelehrten so: »Leidenschaftlich in seinen Überzeugungen und Zweifeln, bietet Ampère stets das Bild einer mystischen und gequälten Seele.« Immer weniger gelang es ihm, sich seinen Mitmenschen verständlich zu machen. Darüber verfiel er in tiefe Melancholie. Mehr und mehr wurde der liebenswürdige, sensible und poetisch veranlagte Gelehrte zur Zielscheibe des Gespötts. Zahlreiche Anekdoten ranken sich um seine Zerstreutheit. Man amüsierte sich darüber, daß Ampère im Feuereifer seines Vortrags vor der Französischen Akademie den direkt vor ihm sitzenden Kaiser Napoleon nicht erkannt und ihn keines Grußes gewürdigt hatte. Der Kaiser nahm es ihm nicht übel, sondern lud den berühmten Gelehrten für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Napoleon wartete umsonst: Über seiner Arbeit hatte Ampère die Verabredung vergessen.

      Die letzte große Aufgabe, die Ampère im Jahr 1834 in Angriff nahm, war der Versuch, die Gesamtheit der wissenschaftlichen Kenntnisse in ein umfassendes Ordnungsschema zu gruppieren. Das an sich wohldurchdachte philosophische Alterswerk fand bei der Fachwelt jedoch keine Resonanz, im Gegenteil: Von seinen Kollegen erntete der Autor nur Spott und ablehnende Kritik. Die letzten Lebensjahre waren geprägt von Armut und Krankheit. Auf einer Reise in die Provence, von der er sich eine Besserung seines »Lungenkatarrhs« versprochen hatte, verschlimmerte sich sein Zustand. Während eines Besuches der Universität von Marseille starb Ampère am 10. Juni 1836, erst 61 Jahre alt, nach einem plötzlichen Fieberanfall. Dreißig Jahre später wurde sein Sarg nach Paris überführt und unter großen Ehren auf dem Friedhof von Montmartre beigesetzt. Das Elternhaus in Poleymieux wurde zu einem »Ampère-Museum« umgebaut.

      Ein Denkmal der besonderen Art wurde Ampère im Jahr 1881 von den Teilnehmern des in Paris tagenden »Electrischen Congresses« gesetzt. Auf Vorschlag des deutschen Physikers Hermann von Helmholtz (1821–1894) wählte man für die Einheit der elektrischen Stromstärke die Bezeichnung »Ampere«. So wurde der Name des unsteten, vom Glück verlassenen französischen Forschers zu einem in aller Welt bekannten Terminus technicus.

      Das ungenießbare Mittagsmahl

      André Marie Ampère war geradezu der Inbegriff eines zerstreuten Professors. Immer in tiefen Gedanken versponnen, ständig mit physikalischen Problemen beschäftigt, nahm er sein Umfeld oft kaum noch wahr. Eine hübsche Anekdote illustriert dies:

      Nach einer Vorlesung wurde er einmal von einem befreundeten Professor eingeladen, bei dessen Familie zu Mittag zu speisen. Als sich das Mahl etwas verzögerte, nutzte Ampère die Zeit, um in seinem Notizbuch eine Formel nachzurechnen.

      Noch ganz in Gedanken, setzte er sich zu Tisch, aß einige Bissen, schleuderte die Serviette auf den Tisch und schimpfte: »Das Essen ist ja wieder einmal nicht zu genießen! Wann wird meine Schwester endlich einsehen, daß jede Köchin, bevor man sie einstellt, erst eine Kostprobe ablegen muß?« Ampère hatte völlig vergessen,


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