Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts. Marco Mansdörfer

Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts - Marco Mansdörfer


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wirtschaftswissenschaftliche Strömung, die den methodologischen Individualismus bislang am weitesten entwickelt hat, ist die sog. Neue Institutionenökonomik[78]. Der Begriff der „Neuen Institutionenökonomik“ dient zur klassifikatorischen Abgrenzung vom sog. „amerikanischen Alten Institutionalismus“. Kernaussage der Neuen Institutionenökonomik ist zunächst, dass Institutionen (stark vereinfacht: Regeln für wirtschaftliches Handeln) für den Wirtschaftsprozess von Bedeutung sind[79]. Diese Aussage wird zwar auch von neoklassischen Wirtschaftswissenschaftlern nicht bestritten; die Neue Institutionenökonomik geht aber einen wesentlichen Schritt weiter. Sie geht davon aus, dass Institutionen dem Menschen nicht exogen vorgegeben sind. Die Institutionen werden als endogen und variabel betrachtet. Die Struktur der Institutionen wird wesentlich durch sog. Transaktionskosten – im weitesten Sinne also Kosten beim Eingehen und bei der Kontrolle der Durchführung von Vereinbarungen zwischen verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern[80] – beeinflusst. Der Neuen Institutionenökonomie liegt folgender gedanklicher Dreischritt zugrunde: Individuum – Vertrag – Institution oder in umgekehrter Reihenfolge Institution – Vertrag – Individuum. Der Begriff der Institution wird dabei – etwa nach Ostrom – definiert „als die Menge von Funktionsregeln, die man braucht, um festzulegen, wer für Entscheidungen in einem bestimmten Bereich infrage kommt, welche Handlungen statthaft oder eingeschränkt sind, welche Aggregationsregeln verwendet werden, welche Verfahren eingehalten werden müssen, welche Information geliefert oder nicht geliefert werden muss und welche Entgelte den Einzelnen entsprechend ihren Handlungen zugebilligt werden“[81]. Damit wird deutlich, dass Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen dieses Wissenschaftszweiges Überlegungen zu den Voraussetzungen individuellen Wirtschaftens sind – also genau jene Voraussetzungen, die auch die Basis des hier entwickelten Wirtschaftsstrafrechts bilden sollen[82]. Betrachtet man das Wirtschaftsstrafrecht nun aus einer externen, sozialwissenschaftlichen Perspektive im Sinne der Neuen Institutionenökonomik selbst als eine Institution von vielen, die den gemeinsam den Rahmen wirtschaftlichen Handelns bilden, so schließt sich letztlich die Kluft zwischen beiden anfangs so weit von einander entfernt erscheinenden Disziplinen[83].

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      Ausgangspunkt der Rekonstruktion ist das Modell des homo oeconomicus. Die Ökonomik – vereinfacht: die Lehre vom rechten Wirtschaften[84] – weist dem Menschenbild des homo oeconomicus seit der um etwa 1870 beginnenden Neoklassik eine überragende Bedeutung zu[85] und beschreibt den Menschen (heute) als strategisch und am Eigeninteresse orientiert[86]. Der Begriff „strategisch“ steht in diesem Zusammenhang für die Fähigkeit, sich die möglichen Folgen unterschiedlicher Verhaltensweisen in Interaktionen vorzustellen und das Handeln, mit Bezug auf die jeweiligen Intentionen, an diesen Vorstellungen zu orientieren[87]. Der homo oeconomicus handelt aufgrund seiner eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit begrenzt rational. Die Einschränkungen seiner Wahrnehmungsfähigkeit verhindern, dass der homo oeconomicus alle Folgen seines Handelns ex ante exakt bestimmen kann, und zwingen ihn, sein Verhalten sich verändernden Situationen anzupassen. Das Modell des homo oeconomicus ist damit zugleich ein Modell zur Analyse von Entscheidungsprozessen und zur Interaktion mit anderen[88]. Die Ausrichtung des homo oeconomicus am Eigeninteresse wird heute nicht mehr als schlichte Verfolgung von Eigeninteressen verstanden, bei der Ausgangspositionen vollständig und freimütig bekannt gegeben und dann regelgebunden wechselseitige Zusagen erfüllt werden[89]. Das Eigeninteresse wird vielmehr opportunistisch verfolgt[90]. Opportunismus bedeutet insoweit die „listige Verfolgung des Eigeninteresses“. Der Begriff der List schließt auch krasse Formen wie Lügen, Stehlen und Betrügen ein, bezieht sich meist aber auf raffinierte Formen der Täuschung. Für das Recht bedeutet das, der homo oeconomicus nimmt, soweit dies für ihn folgenlos bleibt, auch einen Rechtsbruch in Kauf[91].

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      So berühmt das Bild des homo oeconomicus zwischenzeitlich geworden ist, so heftig ist die Kritik, der es sich ausgesetzt sieht[92]. Gegenstand dieser Kritik ist vor allem die dem klassischen Bild des homo oeconomicus zugrunde liegende Anthropologie, die sowohl normativ als auch empirisch unhaltbar sei:

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      Geradezu auf der Hand liegt der Hauptvorwurf, die Reduktion von Komplexität sei mit dem Bild des homo oeconomicus ins Extrem getrieben worden, so dass die wesentlichen Züge des Menschen verloren gegangen seien[93]. Die Kritik begnügt sich allerdings nicht mit solch einer grundsätzlichen Verwerfung des homo oeconomicus; sie richtet sich auch gegen die einzelnen Definitionsmerkmale selbst. Dies gilt zunächst für das Maß des von den Individuen angestrebten Eigennutzes. Uneinigkeit besteht hier darüber, ob erstens der homo oeconomicus sein Eigeninteresse maximieren oder lediglich befriedigen will, ob also das Maß des verfolgten Eigennutzes nicht seinerseits nach wirtschaftlichen Kriterien variiert, und ob zweitens nicht grundsätzlich von einer eingeschränkten Rationalität des Akteurs ausgegangen werden muss, ob also nicht „mehr harte Fakten der wirklichen Welt“ in die Theorie einbezogen werden müssen[94]. Die angedeuteten Schwächen können bereits am einfachen Fall des privaten Kapitalanlegers exemplifiziert werden, der sich mit dem Modell des homo oeconomicus nur schwer verarbeiten lässt.

      Beispiel:

      Obwohl beim privaten Kapitalanleger das erstrebte Eigeninteresse, die Realisierung einer gewissen Rendite, noch einfach zu definieren ist, hängt die konkrete Anlageform und damit das konkrete Verhalten von einer Vielzahl individueller Umstände ab. Solche Umstände sind etwa die Anlagedauer und die Verfügbarkeit des anzulegenden Kapitals, aber auch die eigenen Kenntnisse über den Kapitalmarkt, die Bereitschaft, die Anlage bei der Investition in einen stark volatilen Markt zu überwachen, die individuelle Risikobereitschaft und vieles mehr. Das Modell des homo oeconomicus versagt aber auch, wenn sich in dem Beispiel des Kapitalanlegers nicht nur eine, sondern mehrere Alternativen finden lassen, die das angestrebte Ziel bei gleichen Kosten in demselben Maße erreichen[95]. Vielleicht wird der Kapitalanleger sein Renditeziel anheben – damit wird das Modell des homo oeconomicus dynamisch; anstatt einer „bestimmten“ Rendite, versucht der Kapitalanleger in diesem Fall also eine „möglichst hohe“ Rendite zu erwirtschaften.

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      Unanfechtbar scheint die Kritik am homo oeconomicus dort, wo sie durch empirische Untersuchungen zuverlässig reproduzierbare Anomalien in den Rationalitätsannahmen aufzeigen kann[96]. Dazu sollen Experimente gehören, in denen der homo oeconomicus als Proband irrationale Verlustaversionen zeigt und einem rational erwartbaren sehr hohen Gewinn, den nur hohen, dafür sicheren Gewinn vorzieht. Andere Beispiele bieten Situationen, in denen der homo oeconomicus „ethisch“ statt ökonomisch handelt, indem er etwa anonym spendet oder Trinkgeld gibt.

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      Ob dieser Triumph wirklich unanfechtbar ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. Vielleicht lassen sich aber gerade einige der angeblichen empirischen Anomalien doch rational durch Wahrnehmungsdefizite, durch Grenzinvestitionen in Informationen oder auch nur durch den abnehmenden Grenznutzen eines materiellen Gutes und der ab einem bestimmten Wohlstandsniveau angestrebten sozialen Anerkennung erklären[97].

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      Der Umstand, dass die Ökonomik an dem Bild des homo oeconomicus in vielen Bereichen weiter festhält, hat andere Gründe und – um eine Vermutung gleich auszuschließen – die Gründe liegen nicht in einem Mangel an Alternativen[98]: Bereits die klassischen Ökonomen um Adam Smith haben den Menschen weitaus differenzierter gesehen[99] und selbstverständlich haben auch die Wirtschaftswissenschaften das Bild des homo oeconomicus angereichert[100]. Die bekanntesten dieser komplexeren Menschenbilder sind die des resourceful evaluative maximizing man (REMM)[101] und das der Soziologie entlehnte Bild des socialized, roleplaying, socialy sanctioned man (SRSM)[102]. Das REMM-Modell baut zunächst auf dem Bild des homo oeconomicus auf. Menschen sind danach zwar weiterhin rational und abwägend (evaluative) und versuchen weiterhin ihre Ziele maximal zu erreichen (maximizing); zugleich wird aber in


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