Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts. Marco Mansdörfer
So wird aus wirtschaftstheoretisch-systemimmanenter Perspektive von einem Händler erwartet, dass er Waren möglichst billig einkauft, um sie dann möglichst teuer zu verkaufen. Aus rechtlicher Perspektive würde der angestellte Kaufmann, der diese Prämisse missachtet, seine arbeitsvertraglichen Pflichten in rechtlich bedeutsamer Weise verletzen, vielleicht sein Arbeitsverhältnis gefährden und Schadensersatzpflichten auslösen oder in extremen Fällen sogar wegen Untreue strafbar sein. In diesem Sinne wird etwa in der gesellschaftsrechtlichen Literatur diskutiert, ob der Vorstand einer Aktiengesellschaft nicht sogar von seiner Legalitätspflicht gegenüber dem Unternehmen suspendiert sein soll, wenn ein Rechtsbruch dem Unternehmen nützt[129]. Das Gewinnstreben als normative Vorgabe könnte danach also in bestimmten Fällen sogar entgegenstehende rechtliche Vorgaben verdrängen und hätte demnach normativ sogar eine herausgehobene Bedeutung.
c) Aufnahme von Bezügen zu sonstigen Lebensbereichen – Hinweise auf die besondere Rolle des Wirtschaftsverfassungsrechts
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Potentieller Adressat strafrechtlicher Normen wird der homo oeconomicus erst dort, wo er mit anderen Individuen agiert und damit Teil einer Gesellschaft wird. Diese „Vergesellschaftung“ des homo oeconomicus ist daher konstitutiv für jedes Wirtschaftsstrafrecht. Wie genau die „Vergesellschaftung“ des homo oecomicus wirtschaftstheoretisch erklärt werden kann, ist (unter anderem) Gegenstand der folgenden Kapitel. Bereits an dieser Stelle soll aber auf die besondere normative Rolle des Wirtschaftsverfassungsrechts hingewiesen werden. Über das Wirtschaftsverfassungsrecht wird der homo oecomicus und das diesen betreffende Wirtschaftsstrafrecht zu den verschiedensten Lebensbereichen in Bezug gesetzt[130]. Aus dem Zusammenspiel der Berufsfreiheit beispielsweise mit der Glaubensfreiheit, der Freiheit der Forschung oder der Vereinigungsfreiheit ergeben sich wesentliche Aussagen für die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit hoheitlicher Beschränkungen und die widerstreitenden Interessen, die in eine praktische Konkordanz überführt werden müssen[131]. Das Wirtschaftsstrafrecht muss danach in einen Prozess der Konstitutionalisierung einbezogen werden, der andere Bereiche des Strafrechts längst erfasst hat und weit über die nationale Ebene hinausreicht[132]. Das heutige Wirtschaftsstrafrecht beschreibt daher das Wirtschaftsstrafrecht einer sozial korrigierten Marktwirtschaft[133]. Darüber hinaus wird der – in der Diktion von Weber[134] – zunächst „relativ offene“ Begriff Wirtschaftsstrafrecht dem alltäglichen politischen Prozess entzogen und damit zwar nicht in seiner Dogmatik, wohl aber in seinem materiellen Kerngehalt ähnlich änderungsfest wie das Wirtschaftsverfassungsrecht selbst[135]. Daraus folgt ein rechtstheoretisches Begriffsverständnis, das dem positiven Recht als kritischer Maßstab gegenüber steht und dieses hinterfragen kann.
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Indem das Wirtschaftsstrafrecht in diesen Konstitutionalisierungsprozess einbezogen wird, wird die Notwendigkeit, dieses Recht möglichst konsequent auf subjektive Rechte des Einzelnen zurückzuführen, nochmals bestätigt. Die Ausführungen zur Wirtschaftsverfassung werden zeigen, wie stark diese durch die Gewährleistungen der verschiedenen individuellen Freiheitsrechte geprägt wird. Der Rückgriff auf die einzelne Person bildet zugleich den entscheidenden Ansatz, mit dem eine Konvergenz[136] von (straf)rechtlichen und ökonomischen Steuerungsmechanismen hergestellt werden kann[137]. Der Hypertrophie überindividueller oder kollektiver Rechtsgüter wird damit entgegengetreten.
3. Konsequenzen des eigenen Ansatzes für die nachfolgenden Überlegungen
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Wählt man als Grundlage für die Erklärung des Wirtschaftsstrafrechts einen methodischen Individualismus, wie er soeben vorgestellt und näher konkretisiert wurde, so hat dies weitreichende Konsequenzen:
Da eine für das Wirtschaftsstrafrecht wie für das Kernstrafrecht gleichermaßen gültige Dogmatik eingefordert wird, wird eine gänzlich eigenständige Rekonstruktion des Wirtschaftsstrafrechts für weite Bereiche überflüssig[138]. Dies gilt beispielhaft für das Gebiet der strafrechtlichen Produkthaftung, die im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung an den tradierten Tatbeständen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit oder des Lebens anknüpfen kann und soll. Ähnliches gilt für das Umweltstrafrecht, das auf ökonomisch eingebettete Sachverhalte in grundsätzlich gleicher Weise angewendet werden soll wie auf Fallkonstellationen jenseits dieses Kontexts.
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Konsequenzen hat der Ansatz aber auch für die Art und Weise, wie die ökonomisch und rechtlich maßgeblichen Rechtsgüter konkretisiert werden. Hier geht es darum, insbesondere das ökonomische Individualverhalten in den Zusammenhang verfassungsrechtlicher Vorgaben und korrespondierender wirtschaftstheoretischer Überlegungen zu stellen[139]. So können dann die gegenläufigen Entfaltungs- und Gütererhaltungsinteressen entwickelt werden, die die Grundlage für die Qualifikation eines Verhaltens als strafrechtlich zu missbilligende Gefahrenschaffung darstellen. Da der Einsatz des Strafrechts nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter legitimiert werden kann und der Ausgangspunkt beim Einzelnen zu nehmen ist, sind freilich nur die elementaren Voraussetzungen für individuelles Wirtschaften schützenswert. Dabei stellen sich vor allem zwei Probleme: Zum einen handelt es sich um mehrere Handlungsvoraussetzungen und zum anderen ist rein tatsächlich eine unübersehbare Vielfalt von Einzelsituationen zu bewältigen. Es ist daher zum einen notwendig, in erheblichem Maße zu abstrahieren; zum anderen werden sich die im Einzelfall auftretenden Probleme hinreichend anschaulich nur an einigen ausgewählten Beispielen darstellen lassen.
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Weitere Folgen hat der gewählte methodische Ansatz für die Konkretisierung der strafrechtlichen Zurechnungsstrukturen. Die hier vertretene Form des Individualismus sieht den Einzelnen durchaus in der konkreten Gesellschaft, in der er anderen Gesellschaftsmitgliedern begegnet und in der er durch Interaktionen mit anderen seine individuellen Präferenzen zu verfolgen versucht. Zu solchem Zusammenwirken mehrerer gehört das Zusammenwirken des Einzelnen mit anderen in Unternehmen, aber auch andere Formen der Zusammenarbeit – etwa die Koordination individueller Handlungen durch die „unsichtbare Hand des Marktes“. Der methodische Individualismus hält insoweit theoretische Modelle vor, wie sich der Einzelne aufgrund seiner ökonomisch-orientierten Haltung in solchen Situationen verhalten wird und wie dieses Verhalten durch die Ausgestaltung der Institutionen beeinflusst werden kann. Es stellt sich daher die Frage, welche strafrechtlichen Zurechnungsstrukturen derartigen Interaktionen angemessen sind. Insbesondere wird zu klären sein, ob die traditionellen strafrechtlichen Strukturen, die das Zusammenwirken mehrerer leiten sollen, dem von der Verfolgung seines Eigeninteresses geprägten homo oeconomicus angemessen sind oder nicht. Wenn man das Wirtschaftsstrafrecht ausgehend von Individualhandlungen über einzelne Vertragsschlüsse bis hin zu sich entwickelnden Institutionen erklären möchte, muss es jedenfalls möglich sein, auf dieser Basis auch theoretische Prämissen zur Lösung komplexer Zurechnungsfragen zu entwickeln.
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Weitere wesentliche Konsequenz dieses Ansatzes ist, dass das so entwickelte Wirtschaftsstrafrecht in weiten Teilen wertfrei gestaltet wird. Schon der zum Ausgangspunkt genommene Einzelne wird in der Bestimmung seiner konkreten Präferenzen als grundsätzlich frei erachtet. Der methodische Individualismus verpflichtet den Einzelnen also auf kein bestimmtes Verhaltensideal und ist damit selbst im Grunde wertfrei. Rechtspolitisch gewendet führt diese Wertfreiheit in der Konsequenz zwar zu einer liberalen Grundausrichtung, nicht aber zu einem liberalen Dogma. Aus dem Ansatz an sich folgt nicht einmal methodisch eine generelle Ablehnung überindividueller oder kollektivistischer Versuche zur Klärung (wirtschafts)strafrechtlich relevanter Fragen. Es wird nicht behauptet, dass solche Versuche gänzlich unmöglich sind oder überhaupt keinen Ertrag abwerfen. Im Gegenteil: Methodischer Individualismus und methodischer Kollektivismus müssten in der Theorie bei einer vorgegebenen Fragestellung und bei richtiger Durchführung im Grunde zu identischen inhaltlichen Antworten auf die gestellte Frage führen[140]. Was beide Ansätze methodisch unterscheidet, sind primär die Wege, die jeweils beschritten werden, und die Begrifflichkeiten, die jeweils verwendet