Allgemeines Verwaltungsrecht. Mike Wienbracke
der formelle Gesetzgeber auch insoweit alle wesentlichen, insbesondere grundrechtsrelevanten Entscheidungen selbst treffen. Grundrechtsbeschränkende Satzungen (z.B. Kommunalabgabensatzungen) vermögen daher nicht auf eine lediglich allgemeine Ermächtigungsgrundlage zum Satzungserlass gestützt zu werden (z.B. § 4 Abs. 1 GemO BW, Art. 23 bay. GO, § 7 Abs. 1 GO NRW), sondern bedürfen vielmehr einer besonderen parlamentsgesetzlichen Grundlage (z.B. § 2 Abs. 1 KAG BW, Art. 2 Abs. 1 bay. KAG, § 2 Abs. 1 KAG NRW).[14]
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Ebenso wie im Rahmen des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes (Rn. 20) ist auch im vorliegenden Zusammenhang des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes – freilich ebenfalls nur bei entsprechendem Anlass – zu prüfen, ob die Verwaltung die jeweilige Maßnahme auch tatsächlich auf die scheinbar einschlägige Norm stützen kann, d.h. diese wirksam (Rn. 129 ff.) und im konkreten Fall anwendbar ist (Rn. 135 ff.).
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Soweit sich der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes nicht bereits ausdrücklich aus der jeweils in Rede stehenden Vorschrift ergibt (Rn. 9), ist seine genaue Reichweite streitig. Ausgangspunkt der Argumentation sind das Demokratie- (Art. 20 Abs. 1, 2 S. 1 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG. Abweichend von der „Lehre vom Totalvorbehalt“[15] (siehe Übungsfall Nr. 4), die für jede Handlung der Verwaltung eine gesetzliche Grundlage fordert, gilt der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes nach h.M.[16] nur für:
• | belastende Maßnahmen[17] im Rahmen der Eingriffsverwaltung („Eingriffe in Freiheit und Eigentum“). Insoweit folgt die Anwendbarkeit des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes bereits aus den Grundrechten, jedenfalls aus dem Auffang-Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Diese schützen vor belastenden staatlichen Maßnahmen, die nicht auf eine gültige gesetzliche Grundlage zurückgeführt werden können, wozu u.a. auch behördliche Auswahlentscheidungen namentlich im Bereich der Berufsfreiheit zählen (vgl. Übungsfall Nr. 3).[18] Ob es sich bei dem Grundrechtseingriff um einen solchen im „klassischen“ Sinn (Kurzformel: final, unmittelbar, rechtlich und mit Zwang) handelt oder ob grundrechtlich geschütztes Verhalten durch die mittelbar-faktischen Wirkungen staatlichen Handelns als „funktionalem Eingriffsäquivalent“ im Sinne des modernen Eingriffsbegriffs[19] beeinträchtigt wird, ist insoweit ebenso wenig von Belang wie das Ausmaß der Belastung[20]. Allerdings ist bei einer Maßnahme der letztgenannten Art sorgfältig zu prüfen, ob insoweit der Schutzbereich des in Frage kommenden Grundrechts wirklich eröffnet ist (z.B. hänge es bei einer sog. Gefährderansprache von ihrem konkreten Inhalt ab, ob die Polizei durch sie in Grundrechte des Betroffenen eingreift; sofern dies nicht der Fall ist, stelle die allgemeine Aufgabenzuweisungsnorm [z.B. §§ 1 f. PolG BW, Art. 2 bay. PAG, § 1 PolG NRW] eine hinreichende Handlungsgrundlage dar[21]). |
Beispiel[22]
Gestützt auf einen Erlass des zuständigen Landesministeriums nahm die örtliche Ordnungsbehörde auf der Bundesautobahn mittels Videoaufzeichnung Geschwindigkeitsmessungen vor. Auf dem hierdurch gewonnenen Bildmaterial ist u.a. zu erkennen, wie Autofahrer A die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 29 km/h überschreitet. Gegen den nachfolgend ergangenen Bußgeldbescheid legte A fristgerecht Einspruch ein mit dem er rügte, dass die Videoaufzeichnung ohne ausreichende Rechtsgrundlage angefertigt worden sei. Hat A Recht, wenn die Videoaufzeichnung nach keiner gesetzlichen Befugnis gestattet war?
Ja. Die von der Ordnungsbehörde angefertigte Videoaufzeichnung greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des A aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Dieses Grundrecht ist zwar der Einschränkung im überwiegenden Allgemeininteresse zugänglich. Doch ist hierfür eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Bei dem Erlass des Landesministeriums, auf den allein die Videoaufzeichnung gestützt wurde, handelt es sich jedoch lediglich um eine Verwaltungsvorschrift, d.h. eine verwaltungsinterne Anweisung, und gerade nicht um ein Gesetz.
Da die Grundrechte auch im Rahmen von „Sonderstatusverhältnissen“ (früher sog. besondere Gewaltverhältnisse)[23] gelten, d.h. innerhalb von Rechtsverhältnissen, in denen der Einzelne in einer engeren Beziehung zum Staat steht als im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis der Fall (z.B. Beamten-, Soldaten-, Schul- und Strafgefangenenverhältnis), greift auch insoweit der Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt; |
• | Entscheidungen, die außerhalb der Eingriffs- und Leistungsverwaltung für die Grundrechtsausübung wesentlich sind (z.B. Einführung von Sexualkundeunterricht; nicht dagegen: Rechtschreibreform), soweit diese der Regelung durch den Gesetzgeber zugänglich sind. Entsprechendes gilt für Entscheidungen mit wesentlicher Bedeutung für das Allgemeinwohl (z.B. friedliche Nutzung der Kernenergie, Stationierung von C-Waffen, Grundlinien der Rundfunkordnung) sowie für grundlegende organisatorische Maßnahmen wie die Beleihung[24] Privater, die Behördenzuständigkeit oder die Zusammenlegung des Innen- und Justizministeriums durch den Ministerpräsidenten (vgl. Rn. 49 und Rn. 51 zum sog. institutionellen Gesetzesvorbehalt).[25] |
Beispiel[26]
Die G-GmbH ist bundesweit als Kontrollstelle im ökologischen Landbau tätig. Sie überprüft landwirtschaftliche Unternehmen auf die Einhaltung der Standards des ökologischen Landbaus und zertifiziert Betriebe und Erzeugnisse nach dem Öko-Landbaugesetz. In Bayern nimmt die G-GmbH diese Kontrollaufgaben auf Grund eines Beleihungsbescheids mit folgender Nebenbestimmung wahr: „Bei Schäden, die die Kontrollstelle in Wahrnehmung ihrer Aufgaben Dritten zufügt, hat die Kontrollstelle – sofern sie in Anspruch genommen wird – keinen Ausgleichsanspruch gegen den Freistaat Bayern. Wird der Freistaat Bayern in Anspruch genommen, hat die Kontrollstelle diesen von der Haftung freizustellen.“ Hat die von der G-GmbH in zulässiger Weise gegen diese Nebenbestimmung erhobene Anfechtungsklage Erfolg, wenn für die Haftungsregelung keine gesetzliche Grundlage existiert?
Ja. Die zulässige Anfechtungsklage ist auch begründet und hat damit Erfolg, weil die in der Nebenbestimmung getroffene Haftungsregelung schon mangels gesetzlicher Grundlage rechtswidrig ist und die G-GmbH in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dass die vorliegende Haftungsregelung einer gesetzlichen Grundlage bedarf, ergibt sich aus Art. 33 Abs. 4 GG sowie den Verfassungsgrundsätzen des Rechtsstaats- und des Demokratiegebots (Art. 20 Abs. 1, 3 GG). Denn die Beleihung Privater mit hoheitlichen Befugnissen stellt eine staatsorganisatorische Maßnahme dar, die von dem Regelbild der Verfassungsordnung abweicht, nämlich dass hoheitliche Befugnisse i.d.R. Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen sind, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen (Funktionsvorbehalt für Beamte). Muss der Gesetzgeber hiernach jedenfalls das „Ob“ der Beleihung regeln, so können darüber hinaus aber auch einzelne Modalitäten der Beleihung (das „Wie“) derart wesentlich sein, dass sie der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten sind. Dies ist bzgl. der hier in Frage stehenden Haftungsregelung vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Regelbilds des Art. 34 S. 2 GG der Fall, wonach bei Pflichtverletzungen, welche den Staat Dritten gegenüber zum Schadensersatz verpflichten, ein Rückgriff des Staates gegenüber dem jeweils Handelnden nur oberhalb der Schwelle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit vorbehalten ist. Der hiermit u.a. verfolgte Zweck, die Entschlussfreude und damit die Effizienz hoheitlichen