AGB-Recht. Martin Schwab
Zum Geltungsbereich des § 305c I BGB
III. Kriterien für die Beurteilung des überraschenden Charakters einer Klausel
1. Nichteinbeziehung überraschender Klauseln trotz Einverständnisses des Kunden
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Im vorangegangenen Kapitel wurden die Voraussetzungen erläutert, unter denen AGB Bestandteil des Vertrags zwischen dem Verwender und seinem Kunden werden (§ 305 II BGB). Selbst wenn die dort aufgerichteten Hürden genommen sind, kann es geschehen, dass eine Bestimmung in AGB gleichwohl nicht in den Vertrag einbezogen wird – wenn es sich nämlich um eine überraschende Klausel handelt. Nach § 305c I BGB werden Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Vertragsbestandteil – obwohl der Kunde auf sie hingewiesen wurde, zumutbar von ihnen Kenntnis nehmen konnte und mit ihrer Geltung einverstanden war. Durch § 305c I BGB wird mithin das für die Einbeziehung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen geltende rechtsgeschäftliche Konsensprinzip aus Gründen des Kundenschutzes eingeschränkt[1]: Der Kunde muss sich trotz seines Einverständnisses die überraschende Vertragsbestimmung nicht entgegenhalten lassen.
2. Abgrenzung zur Inhaltskontrolle
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Allein der ungewöhnliche Inhalt bewirkt, dass die Bestimmung nicht in den Vertrag einbezogen wird. Es kommt weder darauf an, dass die Klausel vom Gesetz abweicht, noch ist entscheidend, dass sie den Kunden unbillig benachteiligt. In § 305c I BGB geht es also nicht darum, eine inhaltliche Bewertung der Klausel auf ihre Angemessenheit hin zu treffen. Die inhaltliche Unbilligkeit der Klausel ist für die Anwendung des § 305c I BGB weder erforderlich noch genügend[2]. Vielmehr soll der Kunde, der typischerweise bei Vertragsschluss nicht die Zeit und häufig auch nicht das juristische Verständnis für die Lektüre der AGB mitbringt, davor bewahrt werden, dass der Verwender diesen Umstand ausnutzt, um Klauseln in den Vertrag einzubeziehen, die so weit fernab des Vertragsgegenstandes liegen, dass der Kunde, hätte er sich die Klausel bewusst vor Augen geführt, niemals sein Einverständnis mit ihrer Geltung erteilt hätte.
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Beispiel 37
In einem Kaufvertrag über die Lieferung einer Waschmaschine heißt es in den AGB des Lieferanten: „Mit Abschluss des Kaufvertrags kommt zugleich ein Vertrag über die halbjährliche Wartung der Kaufsache zustande. Für jeden Wartungstermin wird eine Vergütung von 100 € fällig.“
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Der zugleich abgeschlossene Wartungsvertrag könnte niemals an einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB scheitern; denn es fehlt an der dafür erforderlichen Gesetzesabweichung (§ 307 III 1 BGB): Es existiert keinerlei gesetzliche Vorgabe, unter welchen Umständen zugleich mit dem Kaufvertrag ein separater Vertrag über Serviceleistungen zustande kommen soll. Das Gesetz enthält somit keine Wertung des Inhalts, dass der Verkäufer es zu unterlassen habe, dem Käufer bei Gelegenheit des Kaufabschlusses einen entgeltlichen Vertrag über solche Nebenleistungen anzudienen. Wohl aber scheitert die Einbeziehung der Wartungsklausel an § 305c I BGB[3]. Nach dieser Vorschrift kann die vertragliche Geltung selbst von solchen Klauseln aberkannt werden, die sich in einer bloßen Beschreibung der Hauptleistungspflichten erschöpfen[4]. Eine überraschende Klausel ist im Beispiel 37 zu bejahen: Der Kaufvertrag ist ein punktueller Austauschvertrag. Kein Käufer muss damit rechnen, durch den Abschluss dieses Vertrags auch noch dauerhaft Serviceleistungen zu beziehen und damit ein Dauerschuldverhältnis mit dem Verkäufer zu begründen. Der Käufer geht vielmehr davon aus, Serviceleistungen nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn er den Anlass für gegeben hält, und dann bei einem von ihm selbst ausgesuchten Unternehmen. Das kann der Verkäufer sein, muss es aber nicht. Dies alles hat mit der Frage, ob die Vereinbarung eines Wartungsvertrags inhaltlich angemessen ist, nichts zu tun: Entscheidend ist allein, welche Art von Vertragsbestimmungen der Käufer erwarten darf, wenn er einen Kaufvertrag der im Beispiel 37 bezeichneten Art abschließt.
3. Das Kompensationsverbot
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Wie bereits hervorgehoben (soeben Rn. 163), ist für den überraschenden Charakter einer AGB nicht entscheidend, ob sie den Klauselgegner unangemessen benachteiligt oder nicht. Konsequent wird eine überraschende Klausel selbst dann nicht Vertragsbestandteil, wenn die eventuell von ihr ausgehende Benachteiligung des Kunden durch anderweitige Vorteile für den Klauselgegner kompensiert wird[5].
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Wenn aber die überraschende Klausel für den Klauselgegner lediglich rechtlich vorteilhaft ist, wird sie Vertragsbestandteil. Ihrer Einbeziehung steht § 305c I BGB nicht entgegen[6]. Dies ist das Ergebnis einer teleologischen Reduktion der Vorschrift: § 305c I BGB will ausschließlich den Klauselgegner davor schützen, dass er Verpflichtungen eingeht oder seine vertraglichen Rechte in einer Weise beschneiden lässt, mit der er nicht rechnen konnte. Dagegen soll § 305c I BGB nicht den Verwender davor bewahren, von sich aus seinem Vertragspartner ungeahnte Vergünstigungen zu gewähren.
4. Abgrenzung zum Vorrang der Individualabrede
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Der Rückgriff auf § 305c I BGB ist überall dort entbehrlich, wo sich die Erwartungen des Kunden bezüglich des Vertragsinhalts in konkreten individuellen Vertragsabreden niedergeschlagen haben. Diese haben nämlich nach § 305b BGB Vorrang vor allgemeinen Geschäftsbedingungen.
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Beispiel 38
In einem formularmäßigen Kaufvertrag über einen Neuwagen heißt es: „Ansprüche des Käufers wegen Sachmängeln verjähren innerhalb einer Woche nach Ablieferung des Fahrzeugs“. K und V unterzeichnen einen solchen Kaufvertrag und daneben eine separate Erklärung, wonach V dem K drei Jahre lang für die Freiheit von jeglichen Mängeln garantiert.
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Eine Klausel, wonach Mängelansprüche bereits eine Woche nach Ablieferung der Kaufsache verjähren, ist gewiss überraschend. Aber dies erweist sich im Beispiel 38 als gänzlich unerheblich. Denn V und K haben durch Individualabrede eine dreijährige Garantie auf alle in dieser Zeit auftretenden Sachmängel vereinbart. Allein das zählt zwischen beiden Parteien. Die Formularklausel wird daher bereits nach § 305b BGB nicht Vertragsbestandteil. Auf einen