Beweisantragsrecht. Winfried Hassemer
war eine Veranstaltung unter Fachleuten mit dem Beschuldigten als Objekt der Ausforschung. Dabei hätten die Öffentlichkeit, die Beteiligung von Laien und ein Beweisantragsrecht nur stören können.
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Nicht die Hoffnung, man könne die Wahrheit besser finden, sondern die Entschlossenheit, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu verbessern und das Strafverfahren öffentlicher Kontrolle zugänglich zu machen, steuerte die Reform des Strafprozesses in den Partikularrechten[1] des 19. Jahrhunderts. Das Veränderungsinteresse der Aufklärung war in diesem Bereich ein politisches, nicht ein erkenntnistheoretisches. Der Beschuldigte bekam die Möglichkeit, sich am Verfahren aktiv zu beteiligen. Er konnte Beweispersonen vorladen und hatte auch das Recht, die Beweisaufnahme mit eigenen Anträgen zu beeinflussen – freilich nur im Rahmen der Sachaufklärungspflicht des Gerichts.[2]
Dies war das Ende des reinen Inquisitionsprozesses. Das Recht des Beschuldigten, sich an der Wahrheitssuche zu beteiligen, hatte zwar nur eine unterstützende Funktion, weil Methoden und Grenzen dieser Suche der Beurteilung des Gerichts unterlagen. Die Verfahrensordnungen gingen aber nicht mehr davon aus, dass das Wissen um den richtigen Weg zur Wahrheit ausschließlich beim Gericht liegt. Die aktive Beteiligung des Beschuldigten konnte die Erkenntnismittel zumindest dadurch verbessern, dass sie sie vervollständigte.
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Die Strafprozessordnung von 1877 hat das Beweisantragsrecht in bescheidenem Umfang gesetzlich begründet und dabei eine Unterscheidung eingeführt, die auch für spätere Gesetzesänderungen verbindlich blieb: die Unterscheidung zwischen Verfahren vor dem Amtsgericht und der landgerichtlichen Berufungsinstanz einerseits sowie vor höheren Gerichten andererseits. Im ersten Verfahrenstyp hatte das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen (§ 244 Abs. 2 StPO a.F.) und durfte Beweisanträge ohne Begründung ablehnen (§ 243 Abs. 2 StPO a.F.). Das in erster und letzter Tatsacheninstanz zuständige Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die Beweisaufnahme auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken (§ 244 Abs. 1 StPO a.F.).[3] Der Gesetzestext lautete:
§ 243
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder wenn die Vornahme einer Beweishandlung eine Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich macht.
(3) Das Gericht kann auf Antrag und von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen.
§ 244
(1) Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiermit einverstanden sind.
(2) In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.
Damit waren Beweisanträge, ihre abgestufte Wirkung und die Bedeutung präsenter Beweismittel anerkannt. Und für die Ablehnung eines Beweisantrags musste zumindest eine gewisse Förmlichkeit beachtet werden, – auch wenn das Gesetz für den zwingend vorgeschriebenen Beschluss und seine etwaige Begründung keine inhaltlichen Vorgaben enthielt.
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Eine solche Konstellation – Anordnung eines Verfahrens zur Ablehnung von Beweisanträgen ohne Enumeration der Gründe, welche eine Ablehnung rechtfertigen – ist eine gute Ausgangsbedingung für die Herausbildung von Richterrecht, sie ruft es geradezu herauf. Das Reichsgericht hat seine Chance genutzt. Dogmatisch verankert in dem Revisionsgrund, die Verteidigung sei durch die Ablehnung eines Beweisantrags unzulässig beschränkt worden (heute § 338 Nr. 8 StPO), haben die Senate schrittweise ein System (allein) zulässiger Ablehnungsgründe entworfen, welches dann später[4] in die StPO eingefügt werden konnte.
Die Geburt eines formalisierten Beweisantragsrechts lässt sich gleich im ersten Band der Amtlichen Sammlung des Reichsgerichts studieren.
Die Entscheidung des I. Strafsenats vom 12.1.1880[5] fußt noch auf der damals nicht in Frage gestellten Überzeugung, dass die Ablehnung eines Beweisantrags nur im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegen könne, lässt aber schon Schwierigkeiten mit der Regelung zur Beachtung präsenter Beweise erkennen:
„Allein nicht jede Ablehnung eines Beweisantrags über einen Punkt, der für die Entscheidung wesentlich sein kann, ist darum als unzulässige Beschränkung der Verteidigung anzuerkennen. Das trifft nicht nur dann zu, wenn der Antrag aus richtigen Rechtsgründen abgelehnt ist, sondern auch dann, wenn ihm ohne Rechtsirrtum für den konkreten Fall die Erheblichkeit abgesprochen ist. Dass über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu befinden und von ganz zwecklosen Erhebungen Umgang zu nehmen hat, liegt so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, dass es einer ausdrücklichen Aufnahme dieses Grundsatzes in der Strafprozessordnung gar nicht bedurfte, er ist aber auch als in den §§ 219 und 243 Satz 2 enthalten anzusehen und im § 244 Satz 1 nur insoweit verlassen, dass die vorgeladenen Zeugen etc. regelmäßig sämtlich zu vernehmen sind, hinsichtlich der abgelehnten also dem Angeklagten nur die eigne Ladung offen gelassen ist, keineswegs nach § 245 Satz 1 ihm das Recht auf Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Befreiung der Beweisanträge von bestimmten Prozessstadien ganz allgemein gewährleistet ist“ (S. 62).
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Kurze Zeit später gelingt dem II. Strafsenat in seinem Urteil vom 6.2.1880[6] die Begründung des Verbots der Beweisantizipation, welches später für die Konstruktion des Beweisantragsrechts von grundlegender Bedeutung werden sollte.[7] Das Schwurgericht hatte es abgelehnt, nach der Einvernahme eines Zeugen einen weiteren Zeugen zu befragen, welcher der Aussage des ersten Zeugen widersprechen würde. Der Senat präzisiert, dass das Schwurgericht damit die Aussage des ersten Zeugen für so überzeugend erachtete,
„dass eine davon abweichende Aussage des (zweiten Zeugen) keinen Glauben verdienen würde. So verstanden beruht jener Grund auf einem Rechtsirrtum, indem dabei außer Acht gelassen wird, dass – von Ausnahmefällen abgesehen, die dann stets einer besonderen Begründung bedürfen – regelmäßig erst nach der vor dem erkennenden Richter stattfindenden Vernehmung sich beurteilen lässt, welchem von zwei sich widersprechenden Zeugen mehr Glauben geschenkt werden kann“ (S. 190).
Damit war entschieden, dass dem Gericht vorgängige Bewertungen einer Beweisaufnahme verwehrt sind: dass es die Beweisaufnahme also erst einmal durchführen muss, bevor es ihren Beweiswert einschätzt. Der Senat hatte den ersten Pflock eingeschlagen, an welchen das Ermessen des Gerichts bei der Ablehnung von Beweisanträgen gebunden war, und er musste dazu argumentativ nicht weit ausholen; eine einfache Logik reichte hin: Eine Beweiserhebung darf nicht deshalb unterlassen werden, weil man ihr Ergebnis schon zu kennen glaubt.
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Die allmähliche Ausformung des Beweisantragsrechts durch die Rechtsprechung wurde von Gesetzesänderungen begleitet, welche dieses Recht zuerst begründeten und ausbauten, dann aber wieder beschnitten und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges ganz beseitigten. Die wechselvolle Geschichte des Beweisantragsrechts zeigt, dass dieses Institut ein sensibler Indikator für Liberalität und Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens ist und dass seine mächtigsten Feinde in einer einseitigen Politik effektiver und funktionstüchtiger Strafrechtspflege, verbunden mit einer Geringschätzung von Beschuldigtenrechten, zu sehen sind.
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Das Gesetz zur Abänderung der StPO vom 22.12.1925[8]