Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts. Markus Wagner
Nach dem Gesagten ist es nicht möglich, die These von der Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit auf Basis bereits gefestigter Begrifflichkeiten zu untersuchen.
Es soll an dieser Stelle nicht der – von vornherein zum Scheitern verurteilte – Versuch unternommen werden, die Begriffe „Recht“ und „Wirklichkeit“ abschließend zu definieren und zu einander ins Verhältnis zu setzen. Vielmehr kann es für die vorliegende Untersuchung nur darum gehen, den Begriffen axiomatisch eine Bedeutung beizumessen, auf die sich der weitere Fortgang gründen kann.
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„Recht“ soll dabei als Inbegriff der Gesamtheit der Aussagen aller Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens begriffen werden, deren Befolgung zwar faktisch vom Willen ihrer jeweiligen Adressaten abhängig ist, für die aber anerkannte Mittel zur zwangsweisen Durchsetzung oder jedenfalls Sanktionierung zur Verfügung stehen, die wiederum eines gewillkürten Aktes bedürfen.
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Zur Verdeutlichung: Ausgeschieden werden sollen damit zu allererst Naturgesetze (wie z.B. die Gravitation), die keiner Umsetzung durch den Menschen bedürfen. Dasselbe gilt für von Menschen geschaffene Strukturen (wie etwa die Preisbildung am Markt), die zwar grundsätzlich durch Interaktionen einzelner gestaltet werden, allerdings in ihrer Gesamtsumme ohne vollstreckbaren Eingriff von außen für den Einzelnen nicht beherrschbar sind.
Erfasst werden geschriebene und ungeschriebene Normen des Bundes, der Länder und der Kommunen sowie der Staatengemeinschaften unabhängig von ihrer Form (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsakt etc.). Ebenfalls unter den zugrunde gelegten Rechtsbegriff fallen Verträge. Satzungen und Leitlinien, wie sie z.B. in Unternehmen, Vereinen und organisierten Berufsgruppen bestehen, sind insoweit Bestandteile des hier verwendeten Rechtsbegriffs, wie Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung bestehen. Akte der Rechtsprechung stellen nur insoweit eigenständiges Recht dar, wie ihnen über den Charakter der bloßen Umsetzung bereits vorhandenen Rechts eigenständige Wirkungen zugeschrieben werden (wie z.B. zivilgerichtliche Gestaltungsurteile).
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Der Begriff der „Wirklichkeit“ soll in einem objektiven Sinne verstanden werden: So werden darunter alle naturwissenschaftlichen Zusammenhänge unabhängig davon verstanden, ob diese Zusammenhänge nach dem Stand der Wissenschaft bereits entdeckt wurden. Dasselbe gilt z.B. für Mechanismen der Volkswirtschaft und vergleichbare Strukturen. Ebenfalls erfasst werden sollen solche Gegebenheiten, die nicht gewillkürt festgesetzt wurden, sondern sich ohne bewusste Steuerung über die Zeit entwickelt haben, wie z.B. weltanschauliche Auffassungen und kulturelles Brauchtum.
Aufgrund der großen Streubreite der in Frage kommenden Phänomene mögen diese Beispiele genügen. Sie sollen in erster Linie verdeutlichen, dass es der Sache nach letztlich nur um eine negative Definition gehen kann: nicht erfasst ist lediglich all dasjenige, was bereits unter den Rechtsbegriff zu fassen ist.[11]
2. Die Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit
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Als erstes wird der Frage nach einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit im eben genannten Sinne nachgegangen. Die Idee eines solchen Akzessorietätsverhältnisses drängt sich geradezu auf, ruft man sich Schlagwörter wie dasjenige der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ ins Gedächtnis.[12] Auch wenn etwa über „sozialadäquates Verhalten“ und seine Auswirkungen auf die Strafbarkeit der betreffenden Person diskutiert wird, geht es in der Sache um nichts anderes als um die Frage, inwiefern das Recht abhängig ist von den jeweiligen gesellschaftlichen Ansichten.[13]
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Ob ein solches Akzessorietätsverhältnis besteht, kann nicht allgemein und abstrakt untersucht werden. Vielmehr ist nach den einzelnen Lebensbereichen[14] zu differenzieren, hinsichtlich derer ein Akzessorietätsverhältnis in Betracht kommt. Zudem wird – zumindest teilweise – danach zu unterscheiden sein, in welcher Phase des Rechts nach einem Akzessorietätsverhältnis gefragt wird: in der Phase der Rechtssetzung oder in der Phase der Rechtsanwendung. Dies findet seine Rechtfertigung unter anderem in der Tatsache, dass die „Wirklichkeit“ sich „für den Normsetzer in einem ganz anderen Aggregatszustand als für den Normanwender“ befindet, weil der dem Rechtsanwender gegenüberstehende Sachverhalt wesentlich konkreter gefasst ist als derjenige Lebensausschnitt, auf dessen Grundlage der Rechtssetzer sein Normgebilde baut.[15]
a) Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden
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Bevor diese Untersuchung im Einzelnen stattfinden kann, ist es notwendig, sich mit denkbaren Einwänden auseinanderzusetzen, die nicht nur einzelne Bereiche, sondern die These von der Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit insgesamt in Frage stellen. Solche scheinen sich einerseits aus dem Blickwinkel der Systemtheorie (aa), Rn. 21 ff.), andererseits aus dem Verfassungsrecht (bb), Rn. 30 ff.) und der Rechtstheorie (cc), Rn. 34) zu ergeben.
aa) Systemtheoretische Einwände gegen eine Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit
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In der juristischen Literatur wurde in den vergangenen Jahren zunehmend die sog. „Systemtheorie“ rezipiert.[16] Dieser Strukturgedanke wurde im angloamerikanischen Bereich ursprünglich von Talcott Parsons vorangetrieben;[17] in Deutschland ist der Begriff untrennbar mit dem Namen Niklas Luhmanns verknüpft. Spätestens dessen grundlegendes Werk „Soziale Systeme“ aus dem Jahre 1984 hat die Diskussion um die Systemtheorie in Deutschland in ihrer ganzen Breite eröffnet.[18]
Die Aussagen der Systemtheorie könnten geeignet sein, der hier zugrunde gelegten These von der Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit das Fundament zu entziehen. Dieser Frage ist im Folgenden nachzugehen. Hierzu müssen jedoch zunächst – wenn auch in der gebotenen Kürze – die Grundstrukturen der Systemtheorie nachgezeichnet werden:
(1) Recht als soziales System
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Die Systemtheorie geht von der Existenz verschiedener sozialer Systeme aus.[19] Neben anderen Systemen wie etwa „Politik“ und „Wirtschaft“ steht das Rechtsystem.[20] Relativ zu jedem System besteht eine Umwelt, welche die übrigen Systeme einschließt;[21] das System „definiert“[22] sich gerade aus der Differenz zwischen System und Umwelt.[23]
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Gegenstand der Systemtheorie sind nicht etwa Menschen als Subjekte[24] (diese werden als Bestandteil der Systemumwelt betrachtet) oder deren Handlungen, sondern ausschließlich Kommunikationen.[25] Jedes System kommuniziert dabei mittels eines spezifischen und binären Codes, der es von den anderen Systemen unterscheidet.[26] Während etwa im System der Wirtschaft dieser Code im Dualismus von „Zahlung“ und „Nicht-Zahlung“ besteht,[27] verläuft die Kommunikation im Rechtssystem über die Aussage, ob etwas „Recht“ oder „Unrecht“ ist.[28]
(2) Recht als selbstreferentielles autopoietisches System
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Die Systemtheorie versteht das Recht