Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts. Markus Wagner
den gesetzgebungstechnischen Phänomenen, die gemeinhin unter Schlagworten wie „normative Tatbestandsmerkmale“, „Blanketttatbestände“ und „Generalklauseln“ verstanden werden.
Ziel der Untersuchung ist es, diese und weitere Arten der Bezugnahme darzustellen und kritisch zu hinterfragen (Teil 2, Rn. 279 ) und auf Grundlage dieser Darstellung die Grenzen der Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts aufzuzeigen (Teil 3, Rn. 449 ). Anschließend werden die Folgen für das Prozessrecht herausgearbeitet (Teil 4, Rn. 802 ).
Hierfür ist es unerlässlich, zunächst die rechtstheoretischen Grundlagen des Akzessorietätsphänomens zu ermitteln, auf die sich der weitere Fortgang der Untersuchung stützt. Dabei wird unter anderem auf das Verhältnis des Rechts zu den verschiedenen Bereichen der Lebenswirklichkeit sowie das Phänomen der „Einheit der Rechtsordnung“ einzugehen sein, um daraus Schlüsse für das Strafrecht im Allgemeinen und das Wirtschaftsstrafrecht im Besonderen ziehen zu können.
Teil 1 Rechtstheoretische Grundlagen › C. Die Basis der Untersuchung: Das Akzessorietätsphänomen
C. Die Basis der Untersuchung: Das Akzessorietätsphänomen
7
Häufig wird behauptet oder zumindest suggeriert, es sei eine spezielle Eigenart des Wirtschaftsstrafrechts, dass dieses einen akzessorischen Charakter aufweise.[1] Allerdings handelt es sich dabei keineswegs um ein spezifisches Phänomen des Wirtschaftsstrafrechts, ja nicht einmal nur des Strafrechts, sondern um ein solches des Rechts im Allgemeinen. Dies wird sogleich näher auszuführen sein.
Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, in methodischer Hinsicht allgemeine Ausführungen voranzustellen, um schrittweise zum Spezielleren vorzudringen: Im Folgenden wird zunächst die Akzessorietät des Rechts im Allgemeinen mit ihren unterschiedlichen Bezugspunkten erörtert (I., Rn. 8 ff.). Anschließend erfolgt eine erste Konkretisierung im Hinblick auf das Strafrecht (II., Rn. 157 ff.), woraufhin in einem dritten Schritt eine Fokussierung auf das Wirtschaftsstrafrecht erfolgen kann (III., Rn. 234 ff.).
Anmerkungen
So etwa Kudlich/Oǧlakcioǧlu WiStrR, Rn. 1. Dieser Eindruck entsteht etwa auch, wenn Tiedemann bereits ganz zu Beginn seines Lehrbuchs schreibt: „Die meisten Teile des Wirtschaftsstrafrechts sind akzessorisch“ (Tiedemann WiStrR EAT, Rn. 2 [Hervorhebung entfernt]).
Teil 1 Rechtstheoretische Grundlagen › C. Die Basis der Untersuchung: Das Akzessorietätsphänomen › I. Die Akzessorietät des Rechts im Allgemeinen
I. Die Akzessorietät des Rechts im Allgemeinen
8
Nur an sehr wenigen Stellen findet sich – jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang – das Stichwort der „Akzessorietät des Rechts“ bezogen auf das Recht im Allgemeinen. Eines der seltenen Beispiele hierfür stellt die Äußerung von Rotsch dar, die zur „Kluft zwischen Praxis und Wissenschaft“ führende „Überfeinerung der Dogmatik“ folge „nur zum Teil aus der bereits genannten Akzessorietät des Rechts“, wobei er an seine vorherige – diesmal allerdings speziell auf das Wirtschaftsstrafrecht bezogene – Aussage anknüpft, dessen Dogmatik sei „in besonderer Weise akzessorisch zur immer rasanteren Veränderung gesellschaftlicher, moralischer, politischer und technologischer Zustände.“[1] Und auch etwa bei Krüper findet sich – allerdings ohne den Begriff der „Akzessorietät“ – die Formulierung der „Abhängigkeit des Rechts, seine Bedingtheit durch Kultur, Tradition und Politik“[2].
1. Die in Frage kommenden Bezugsgegenstände des Akzessorietätsverhältnisses
9
Stellt man diese Zitate den eingangs genannten Beispielen für die Verwendung des Akzessorietätsbegriffs gegenüber, so fällt auf, dass dort von der Abhängigkeit (wirtschafts-)strafrechtlicher Tatbestände von nicht-strafrechtlichem Recht die Rede war, während Rotsch und Krüper hingegen außerrechtliche Bezugsobjekte benennen. Dies legt den Gedanken nahe, dass das Recht im Allgemeinen in doppelter Art und Weise akzessorisch ist; nämlich zur Lebenswirklichkeit einerseits und zum übrigen Recht andererseits.
a) Annäherung an die Begriffe „Recht“ und „Wirklichkeit“
10
Die Untersuchung dieser These gestaltet sich schwierig, weil weder der Begriff des „Rechts“ noch derjenige der „Wirklichkeit“ eindeutig definiert ist, ja beide Begriffe möglicherweise nicht einmal konsensfähig definierbar sind.
aa) Zum Rechtsbegriff
11
Bereits Kant konstatierte: „Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht.“[3] Ein Blick in die einschlägige Literatur offenbart, dass sich an diesem Zustand seither kaum etwas geändert hat: Nur vereinzelt werden tatsächlich Definitionsversuche unternommen.[4] Die Antwort auf die Frage, was „Recht“ ist, sei „schwierig“[5], die genannte Aussage Kants könnte „auch in unserer Zeit gemacht worden sein“[6]. Arthur Kaufmann trägt vor, dass eine streng logische Definition des Rechtsbegriffs nicht möglich sei, sondern dass je nach untersuchtem Gesichtspunkt mehrere funktional gesehen richtige Rechtsbegriffe denkbar seien, die nebeneinander bestehen, aber niemals das Recht als Ganzes begreifen könnten.[7]
bb) Zum Wirklichkeitsbegriff
12
Gleiches gilt für den Begriff „Wirklichkeit“: Eine Vielzahl philosophischer Strömungen bietet jeweils einen eigenen Definitionsansatz an.[8] Und der Physiker Werner Heisenberg behauptete aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive, „die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, [sei] nie die Wirklichkeit „an sich“, sondern eine gewußte Wirklichkeit oder sogar in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit.“[9]
cc) Zur Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Recht und Wirklichkeit
13
Die Schwierigkeit im Umgang mit den Begriffen „Recht“ und „Wirklichkeit“ schafft auch Probleme bei ihrer Abschichtung und stellt damit zugleich die Notwendigkeit ihrer Differenzierung in Frage.
Eine solche ist jedenfalls nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass es sich um die vielbeklagte Kluft zwischen Theorie und Praxis im Rechtsalltag[10] handle. Vielmehr geht es um die Frage, ob das Recht selbst „wirklich“ ist oder Mittler zur Veränderung einer ihm gegenüberzustellenden Realität sein will.
b)