Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts. Markus Wagner
Damit stellen sich für die Übertragbarkeit des oben dargelegten Modells mehrere Probleme: Zum einen wird nicht der Wille des gesamten Volkes abgebildet, weil die politische Linie der Organe lediglich die Mehrheit abbildet. Dass ein wirklich einheitlicher Wille über alle bestehenden sozialen und kulturellen Unterschiede hinaus besteht, ist zudem zu bezweifeln. Zum anderen handelt es sich bei den Organwaltern auch um Menschen, die psychologisch gesehen ihren eigenen Willen bilden, der zudem regelmäßig nicht von der Absicht der Vereinheitlichung des Rechts, sondern von politischen Opportunitäten getragen ist.[240] Diese Punkte wurden bereits von Hans Kelsen als Kritik an der Lehre Georg Jellineks,[241] der soziologische Einwand ebenfalls von Eugen Ehrlich[242] vorgetragen. Hinzu kommt unter der Ägide des Grundgesetzes, dass gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG jedenfalls die Abgeordneten des Bundestages nicht an einen tatsächlich festgestellten Volkswillen gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen sind;[243] diese Wertung kann auch auf die übrigen Staatsorgane übertragen werden.[244]
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Doch selbst diese kritischen Literaturstimmen räumen die Richtigkeit des Grundgedankens einer die Einheit des Rechts bildenden Einheit des Rechtssetzers auch in der repräsentativen Demokratie ein: Handelt es sich für den Rechtssoziologen Eugen Ehrlich zwar nur um ein anzustrebendes Ideal,[245] weist Kelsen darauf hin, dass es nicht auf einen sozialpsychologischen Willensbegriff ankommen könne, sondern nur auf einen juristisch-normativen:[246] Die Handlungen der Staatsorgane stellen sich gerade nicht als ihre eigenen Willensäußerungen dar, sondern werden dem Staat – bzw. dem Träger der Staatsgewalt – zugerechnet, soweit Normen dies vorsehen. Dies ist der Fall, wenn sie in Handlungsformen des Staates tätig werden, z.B. durch Rechtssetzung. Aus dem Ergebnis dieses Zurechnungsvorgangs bildet sich dann aber ein (nicht-psychologischer) „Staatswille“. In der repräsentativen Demokratie ist dieser Staatswille der Volkswille. Das kommt auch in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zum Ausdruck, wonach die Abgeordneten des Bundestages als „Vertreter des Volkes“ fungieren. Das Grundgesetz sieht nur die Existenz eines Volkes vor, wie die Präambel sowie Art. 1 Abs. 2 GG, 20 Abs. 2 S. 1, 146 GG deutlich machen,[247] weshalb das Ergebnis der Zurechnung eine Einheit bilden muss, da der eine Volkswille auf eine Frage nur eine Antwort geben kann.
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Da das Volk als Träger der Staatsgewalt und damit auch der Rechtssetzung „zeitlos“[248] ist, wird die Einheitlichkeit der Rechtssetzung auch nicht durch eine Diskontinuität der Repräsentanten des Volkes durchbrochen. Ein „neuer“ Gesetzgeber kann die bereits bestehenden Normen abändern oder aufheben,[249] da die Zurechnung an die dieselbe Instanz erfolgt, stellt die neue Rechtslage sich nur als aktualisierter Wille desselben Rechtssetzers und nicht als neuer Wille eines anderer Rechtssetzers dar. Soweit die neuen Repräsentanten sich zu einem bestimmten Sachgebiet noch nicht im Wege der Rechtsordnung geäußert haben, bleiben die bisherigen Normen samt der ihnen inne wohnenden politischen Überzeugungen bestehen, selbst wenn diese nicht von den neuen Repräsentanten geteilt werden. Wird aber eine Wertung im Normgefüge verändert, durchdringt diese Änderung auch das bislang vorfindliche Normensystem.
(2) Die Einheit der Rechtsordnungen im Mehrebenensystem
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Auf dieselben Grundsätze lässt sich auch im Mehrebenensystem zwischen Ländern, Bund und Europäischer Union zurückgreifen, soweit der Träger der einen Rechtsordnung Bestandteil des Trägers der anderen Rechtsordnung ist. So ist etwa jeder Bundesbürger auch Bürger eines Bundeslandes. Das sich so bildende Landesvolk als Träger der Landesrechtsordnung ist demnach auch Bestandteil des Bundesvolks. Für den Fall einer Kollision der beiden Rechtsordnungen bestehen rechtsimmanente Regelungen, die dem Bundesrecht den Vorrang einräumen, also mithin anordnen, dass die Eigenschaft eines Bürgers als Teil des Landesvolkes hinter derjenigen als Teil des Bundesvolkes zurücktreten muss: Gem. Art. 31 GG etwa „bricht“ das Bundesrecht das Landesrecht. Allerdings hält das Verfassungsrecht auch Instrumente bereit, die weitestgehend gewährleisten, dass es überhaupt nicht zu Kollisionen kommen kann: Hinsichtlich der Staatsstrukturprinzipien sowie der Grundrechte schaffen die Art. 28 Abs. 1, Abs. 3 GG und Art. 142 GG Homogenität.[250] Im Übrigen sorgt die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern dafür, dass die inhaltlichen Überschneidungen möglichst gering gehalten werden. Hervorzuheben ist dabei, dass Art. 72 Abs. 2 GG die Zuweisung bestimmter Kompetenzbereiche an den Bund gerade davon abhängig macht, dass dies zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich ist. Zudem sind sowohl der Bund wie auch die Länder wechselseitig zur Bundestreue verpflichtet.[251]
Ähnliches gilt im Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem supranationalen Recht der Europäischen Union.[252] Auch hier hat die nationale Rechtsordnung gegenüber dem vorrangig anzuwendenden[253] Unionsrecht zurückzutreten.[254] Im Übrigen besteht auch im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten eine strikte Kompetenzverteilung, die durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip bestimmt wird (vgl. Art. 5 Abs. 1 bis 3 EUV).[255] Kollisionen werden darüber hinaus durch den Grundsatz der gegenseitigen Loyalität vermieden (Art. 4 Abs. 3 EUV); für Einheitlichkeit sorgt außerdem die Möglichkeit (bzw. teilweise sogar Pflicht), ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH durchzuführen (Art. 267 AEUV).[256]
(3) Auseinandersetzung mit naheliegender Kritik
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Das hier skizzierte Modell wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht beantwortet werden können. Damit setzt es sich zugleich einiger Kritik aus, der es im Folgenden vorgreiflich zu begegnen gilt.
(a) Idealisierung des Gesetzgebers
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Erstens sieht die hier vertretene Auffassung sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie idealisiere den Gesetzgeber als fiktive Gestalt und verkenne die Praxis der Gesetzgebung und den damit verbundenen politischen Aspekt. Diese Kritik war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von soziologischer Seite vorgetragen worden.[257]
Wie bereits Hans Kelsen ausgeführt hat, wird damit aber das Verhältnis des Volkes als wahrem Gesetzgeber zu seinen Repräsentanten verkannt. Verstünde man die rechtssetzende Instanz des Staates lediglich als Gruppe fehlbarer Menschen, die aufgrund aktueller politischer Opportunität handelt, wäre die allgemeine Geltung aller staatlichen Normen in Frage zu stellen. Mit Blick auf die Gesetzgebungspraxis handelt es sich bei dieser Betrachtungsweise freilich um eine Idealisierung; diese ist allerdings im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Demokratiesystem gefordert.[258]
(b) Verzerrung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts
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Zudem könnte man dem Missverständnis unterliegen anzunehmen, durch die hier vertretene Ansicht würde das Bundesverfassungsgericht zu einer „Super-Revisionsinstanz“, was nicht seiner verfassungsgemäßen Rolle entspricht.[259] Denn wenn der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung sich als ein vorfindlicher Zustand im Demokratieprinzip gründet, so könnte das Bundesverfassungsgericht auf diesem Wege die systemwidrige Anwendung einfachen Rechts als Verfassungsverstoß werten und auf diesem Wege seiner Kontrolle unterwerfen.
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Ungeachtet der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht sich nicht bereits längst selbst – etwa durch seine Untreue-Entscheidung[260] – selbst zur „Super-Revisionsinstanz (jedenfalls im Bereich des Strafrechts) erhoben hat,[261] trägt dieser Kritikpunkt nicht: Zum einen folgt der Grundsatz nicht unmittelbar aus dem Demokratieprinzip selbst, sondern lediglich aus rechtstheoretischen Gedanken heraus, die sich ihrerseits im Demokratieprinzip verwirklichen. Zum anderen wurde ein parallel gelagertes Problem in der Vergangenheit bereits gelöst: so läge grundsätzlich auch in jedem Verstoß gegen einfaches Recht ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip; nichtsdestotrotz besteht insoweit keine pauschale Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts.[262]