Besteuerung von Unternehmen II. Wolfram Scheffler

Besteuerung von Unternehmen II - Wolfram Scheffler


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die Erträge als so gut wie sicher („quasisicher“) anzusehen sind. Ansprüche gelten als realisiert, wenn sie nicht mehr mit ungewöhnlichen Risiken behaftet sind. Insofern ist auf die wirtschaftlichen Verhältnisse abzustellen. Bei der Interpretation des Realisationsprinzips ist jedoch strittig, in welchem Umfang von den rechtlichen Gegebenheiten abgewichen werden darf. In diesem Zusammenhang besteht ein Zielkonflikt zwischen den Periodisierungsgrundsätzen (stärkere Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse) und dem Objektivierungsgedanken (stärkere Betonung von rechtlichen Kriterien). Wie dieser Zielkonflikt gelöst werden kann, wird anhand von zwei Beispielen verdeutlicht:

Dividendenansprüche bei Mehrheitsbeteiligungen sowie
langfristige Fertigung.

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      (a) Mehrheitsgesellschafter einer Kapitalgesellschaft können auf der Gesellschafterversammlung (Hauptversammlung) den Beschluss, in welcher Höhe die von dem Tochterunternehmen erzielten Gewinne ausgeschüttet werden, entsprechend ihrer Vorstellungen beeinflussen. Wird bei der Konkretisierung des Realisationsprinzips ausschließlich auf formalrechtliche Kriterien abgestellt, kann auch ein Mehrheitsgesellschafter den Anspruch auf die Dividendenzahlungen erst nach Vorliegen eines (rechtswirksam getroffenen) Gewinnverwendungsbeschlusses ertragswirksam vereinnahmen. Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse wird von diesem Grundsatz in Teilbereichen abgewichen. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen der Mehrheitsgesellschafter den Anspruch auf die Zahlung der Dividenden bereits mit Ablauf des Wirtschaftsjahres des Tochterunternehmens als realisiert behandeln (phasengleiche Vereinnahmung von Beteiligungserträgen).

      Beispiel:

      Der Einzelunternehmer M hält in seinem Betriebsvermögen 100% der Anteile an der T-AG. Es wurde kein Gewinnabführungsvertrag (§ 291 AktG) abgeschlossen. Bei beiden Unternehmen stimmt das Wirtschaftsjahr mit dem Kalenderjahr überein. Der Beschluss über die Verwendung des Bilanzgewinns der T-AG für das Wirtschaftsjahr 01 wird am 4.6.02 getroffen.

      Bei einer Betonung der rechtlichen Kriterien wird der Gewinnverwendungsbeschluss als wertbegründendes Ereignis betrachtet. Der Realisationszeitpunkt stimmt mit dem Tag überein, an dem der Gewinnverwendungsbeschluss (rechtswirksam) getroffen wird. Damit hat der Einzelunternehmer M die Dividenden am 4.6.02, dh im Jahr 02, gewinnwirksam zu verbuchen. Der Beteiligungsertrag wird zu dem Zeitpunkt verbucht, zu dem aus Sicht des Mutterunternehmens der Anspruch gegenüber dem Tochterunternehmen hinsichtlich der Zahlung des Beteiligungsertrags (rechtlich) entsteht.

      Stellt man eher auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ab, ist der Gewinnverwendungsbeschluss als werterhellendes Ereignis zu interpretieren. Da mit der Entstehung einer Dividendenforderung und damit mit dem Zufluss von Zahlungsmitteln fest gerechnet werden kann, gelten die Beteiligungserträge mit Ablauf des Wirtschaftsjahres der T-AG als realisiert, dh am 31.12.01. Bei einer phasengleichen Vereinnahmung der Beteiligungserträge hat M die Dividenden bereits im Jahr 01 zu versteuern, dh vor dem Zeitpunkt, zu dem der Anspruch rechtlich entsteht. Bei einer phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen werden diese beim Gesellschafter in dem Jahr ausgewiesen, in dem das Tochterunternehmen die Gewinne erwirtschaftet.

      Die materielle Auswirkung der Diskussion um den Anwendungsbereich der phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen hat zwar mit der Änderung des Körperschaftsteuersystems im Jahr 2000 und der damit verbundenen (teilweisen bzw vollen) Steuerbefreiung von Dividenden (§ 3 Nr 40 EStG, § 8b Abs. 1, 4 KStG) an Bedeutung verloren. Die dabei herangezogenen Argumente sind aber für die Interpretation des Realisationsprinzips sowie für das Verhältnis zwischen Handels- und Steuerbilanz weiterhin sehr bedeutsam. Die Entwicklung der Rechtsprechung zeigt, dass der Zielkonflikt zwischen den Periodisierungsgrundsätzen und dem Objektivierungsgedanken im Zeitablauf in unterschiedlicher Weise gelöst wurde. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut, dass es sich bei den GoB nicht um ein eindeutig formuliertes und starres System handelt, sondern bei der Konkretisierung der einzelnen Unterprinzipien und bei der Festlegung der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen subjektive Wertentscheidungen des Bilanzierenden unvermeidlich sind. Die Entwicklung der Rechtsprechung lässt sich vereinfachend in folgende Phasen einteilen:

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      Ergebnis dieser Entwicklung der Rechtsprechung ist, dass nach aktueller Rechtslage Gewinne aus der Beteiligung an einem Tochterunternehmen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft in der Steuerbilanz des Mutterunternehmens grundsätzlich erst zu dem Zeitpunkt als realisiert gelten, zu dem der Beschluss über die Gewinnverwendung getroffen wird. Zu diesem Zeitpunkt wird das Forderungsrecht „Anspruch auf Dividendenzahlungen“ rechtlich begründet. Der Gewinnverwendungsbeschluss gilt als wertbegründendes Ereignis, durch das das selbständige Wirtschaftsgut „Dividendenforderung“ entsteht. Konsequenz ist, dass insoweit das Realisationsprinzip in der Handelsbilanz anders interpretiert wird als in der Steuerbilanz. Es kommt zu einer Durchbrechung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz: Es existieren zwei verbindliche, sich widersprechende Vorgehensweisen (Fall 2b): Ein Mehrheitsgesellschafter muss (unter bestimmten Voraussetzungen) in der Handelsbilanz seine Beteiligungserträge bereits


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