Besteuerung von Unternehmen II. Wolfram Scheffler
und Produktionsprozesse solange erfolgsneutral sind, bis sich die Werterhöhungen soweit konkretisiert haben, dass an ihrer Verwirklichung keine grundsätzlichen Zweifel mehr bestehen. Ansprüche sind zu dem Zeitpunkt zu realisieren, zu dem sie entstanden sind, m.a.W. wenn sie so gut wie sicher sind. Vollständige Sicherheit wird nicht verlangt, da diese erst im Zeitpunkt des Zahlungseingangs besteht. Mit dem Abstellen auf die „Quasisicherheit“ der Erträge bzw Ansprüche, dh auf das Fehlen von als wesentlich angesehenen Risiken, wird nicht nur dem Vorsichtsprinzip Rechnung getragen, sondern gleichzeitig auch dem Objektivierungsgedanken.
Die Interpretation des Realisationsprinzips ist nur dann eindeutig, wenn man generell auf rechtliche Kriterien abstellt, wie den Übergang der Preisgefahr nach § 446, § 447 BGB oder das Entstehen eines Rechtsanspruchs. Löst man sich zumindest teilweise von rechtlichen Kriterien, ist der Inhalt des Realisationsprinzips unbestimmt. Dies hat die Diskussion um den Zeitpunkt der Realisation von Ansprüchen auf Zahlung von Dividenden, die gegenüber einer Tochterkapitalgesellschaft bestehen, und um den Zeitpunkt der Gewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung deutlich gezeigt. Stellt man stärker auf wirtschaftliche Verhältnisse ab, hängt die Auslegung des Periodisierungsgrundsatzes zumindest teilweise von subjektiven Wertentscheidungen ab. Folgt man diesem Ansatz, hat der Bilanzierende festzulegen, in welchem Umfang er bereit ist, das Konzept einer objektivierten Gewinnermittlung zurückzudrängen, um auf diese Weise im Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens zu vermitteln. In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist zunehmend eine stärkere Betonung des Objektivierungsgedankens festzustellen. Das grundsätzliche Abstellen auf rechtliche Kriterien in der Finanzrechtsprechung führt dazu, dass in Teilbereichen die Erträge in der Steuerbilanz später zu realisieren sind als in der handelsrechtlichen Rechnungslegung. Da die Entwicklungen in den beiden Rechnungslegungskreisen gegenläufig verlaufen sind, haben sich die Unterschiede vergrößert.
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Zur Beurteilung des Realisationsprinzips ist von den Zielen der Ertragsteuern auszugehen. Bei den Ertragsteuern ist das Markteinkommen des Steuerpflichtigen zu erfassen. Bei Gewinneinkünften wird das Markteinkommen mit einer Veränderung des Reinvermögens (Betriebsvermögens) des Steuerpflichtigen gleichgesetzt. Dieser umfassende Einkommensbegriff entspricht dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, da sowohl die regelmäßig fließenden Einkünfte besteuert werden als auch aperiodische Vermögensänderungen einschließlich Veräußerungsgewinne erfasst werden. Zu klären ist allerdings, zu welchem Zeitpunkt Vermögensmehrungen das steuerpflichtige Einkommen erhöhen. Als Leitbilder stehen die Reinvermögenszugangstheorie und die Reinvermögenzuwachstheorie zur Wahl: Die Reinvermögenszugangstheorie stellt auf Marktvorgänge ab. Vermögensmehrungen sind erst zu dem Zeitpunkt zu erfassen, zu dem sie dem Bilanzierenden in Form von liquiden Mitteln zugeflossen sind („Barrealisation“). Nach dem zurzeit geltenden Verständnis des Realisationsprinzips sind Vermögensmehrungen zu dem Zeitpunkt gewinnerhöhend auszuweisen, zu dem sie am Markt bestätigt sind, m.a.W. ab dem Zeitpunkt, zu dem sie so gut wie sicher sind. Aufgrund der im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung aufgestellten hohen Anforderungen an den Objektivierungsgrundsatz steht die Festlegung des Realisationszeitpunkts der Reinvermögenszugangstheorie sehr nahe. Fallen Umsatzakt und Entrichtung des Kaufpreises zusammen, führt das geltende Bilanzsteuerrecht zum gleichen Ergebnis wie die Reinvermögenszugangstheorie. Bei Verkäufen auf Ziel beschränkt sich die Zeitdifferenz auf das dem Käufer eingeräumte Zahlungsziel. Das Realisationsprinzip ist deshalb mit dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit und Tatbestandsbestimmtheit der Besteuerung (Grundsatz der Rechtssicherheit) vereinbar. Demgegenüber sind nach der Reinvermögenszuwachstheorie Vermögenszuwächse bereits zu dem Zeitpunkt zu erfassen, zu dem sie wirtschaftlich verursacht sind. Dieser Ansatz entspricht zwar betriebswirtschaftlichen Überlegungen. Aufgrund der damit verbundenen Ermittlungsprobleme steht die Reinvermögenszuwachstheorie aber im Konflikt mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Darüber hinaus kann die Reinvermögenszuwachstheorie dann zu Liquiditätsproblemen führen, wenn die Steuerzahlungen vor dem Zufluss von Zahlungsmitteln fällig werden. Bei einem Abstellen auf die Reinvermögenszuwachstheorie müssten deshalb die Steuerschulden bis zum Zufluss von liquiden Mitteln gestundet werden.
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Ergebnis ist, dass das Realisationsprinzip in seiner derzeitigen Form, dh in Anlehnung an die Reinvermögenszugangstheorie, akzeptabel ist: Materiell wird dadurch nahezu das gleiche Ergebnis erreicht wie bei der (betriebswirtschaftlich vorzuziehenden) Reinvermögenszuwachstheorie mit Stundung der Ertragsteuern bis zum Zeitpunkt des Zahlungseingangs. Allerdings ist das Realisationsprinzip wesentlich einfacher zu handhaben.[22] Insgesamt betrachtet ist es deshalb positiv zu werten, dass für die steuerliche Gewinnermittlung der Ertragsausweis an die Vereinnahmung der damit verbundenen Einzahlungen angenähert wird (beispielhaft verdeutlicht anhand der Behandlung von Beteiligungserträgen sowie der Gewinnrealisation bei langfristiger Fertigung). Demgegenüber wird in der Handelsbilanz durch eine Vorverlagerung der Ertragsverbuchung in größerem Umfang eine Periodisierung der Einzahlungen vorgenommen. Ein derartig frühzeitiger Ertragsausweis entspricht eher der Informationsfunktion der Handelsbilanz (Ausweis von „richtigen“ Werten). Mit der Zahlungsbemessungsfunktion der Steuerbilanz ist sie nicht vereinbar (Verwendung von „verlässlichen“ Werten).
Diese Aussage bedeutet gleichzeitig, dass im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung die (fortgeführten) Anschaffungs- oder Herstellungskosten die Bewertungsobergrenze bilden müssen. Das Anschaffungswertprinzip darf in der Steuerbilanz nicht durch eine Bewertung mit dem beizulegenden Zeitwert (Fair Value) verdrängt werden. Eine Bewertung mit dem beizulegenden Zeitwert stellt ein Instrument dar, um die Informationsfunktion der (handelsrechtlichen) Rechnungslegung zu erfüllen. Mit der Zahlungsbemessungsfunktion der steuerlichen Gewinnermittlung ist sie nicht vereinbar. Die Ablehnung einer Bewertung zum beizulegenden Zeitwert führt dazu, dass das Stichtagsprinzip eng auszulegen ist. Es ist auf die am Bilanzstichtag geltenden Preisverhältnisse abzustellen. In der Zukunft zu erwartende Preissteigerungen sind (noch) nicht zu berücksichtigen. Darüber hinaus folgt aus dieser Grundentscheidung, dass bei Forderungen und Verbindlichkeiten eine Abzinsung nur dann vorzunehmen ist, wenn den betrachteten Leistungsbeziehungen ein Kreditverhältnis zugrunde liegt.
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Diese traditionelle Interpretation des Realisationsprinzips gilt allerdings nicht mehr uneingeschränkt. Die Entwicklungen in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass in zwei Bereichen in der Handelsbilanz vom Anschaffungswertprinzip abgewichen wird. Die damit verbundene Neuinterpretation des Realisationsprinzips wirkt sich in einem Fall auch in der Steuerbilanz aus:[23] (1) Finanzinstrumente, die von Kreditinstituten zu Handelszwecken gehalten werden, sind sowohl in der Handelsbilanz als auch in der Steuerbilanz mit dem beizulegenden Zeitwert abzüglich eines Risikoabschlags zu bewerten (§ 340e Abs. 3 HGB, § 6 Abs. 1 Nr 2b EStG). Damit wird in beiden Bilanzen nicht auf am Markt realisierte Wertsteigerungen abgestellt, sondern auf am Markt realisierbare Wertsteigerungen. (2) Bei auf fremde Währung lautenden aktiven Wirtschaftsgütern ist bei einer Restlaufzeit von bis zu einem Jahr in der Handelsbilanz der Stichtagswert anzusetzen (§ 256a S. 2 HGB). Demgegenüber bleibt es hinsichtlich der Erfassung von Währungsgewinnen in der Steuerbilanz bei den allgemeinen Regeln, dh die Anschaffungskosten bilden die Wertobergrenze (§ 6 Abs. 1 Nr 2 EStG). Nur bei einer Restlaufzeit von über einem Jahr bilden sowohl in der Handelsbilanz als auch in der Steuerbilanz die Anschaffungskosten die Bewertungsobergrenze (§ 253 Abs. 1 S. 1 HGB, § 6 Abs. 1 Nr 2 EStG).
Anmerkungen
Zum Versendungskauf siehe Knobloch/Baumeister, DStR 2015, S. 2403.
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