Tod in Winterthur. Eva Ashinze

Tod in Winterthur - Eva Ashinze


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      «Siehst du?» Manfredo wandte sich an seine Frau. «Sie hält uns auch für Phantasten. Ich habe es dir ja gesagt.» Er sammelte die Papiere ein und erhob sich halb von seinem Stuhl.

      «Warte.» Claire hielt ihn zurück. Sie sah mich an. «Ich bin nochmals in die Klinik gegangen. Ich wollte mich persönlich mit unserem Arzt unterhalten.»

      «Und?», fragte ich ungeduldig.

      «Doktor Brock war nicht da, nur seine Vertretung, eine Frau Doktor Altmann. Wieder hat man mich abgewimmelt. Alles sei korrekt abgelaufen, hiess es. Man könne nichts für mich tun, hiess es. Aber danach, ich war bereits wieder am Gehen, hat die Biologin auf dem Flur meinen Weg gekreuzt. Sie wollte schnell an mir vorbei, aber dann ist sie doch stehengeblieben. ‹Es tut mir leid›, hat sie mir zugeflüstert.» Claire starrte vor sich hin, in Gedanken versunken. Dann hob sie den Blick, sah mich direkt an. «Was war das, wenn kein indirektes Schuldeingeständnis? Weswegen sollte sie mich bedauern, Mitleid mit mir haben? Die Behandlung war ja offensichtlich erfolgreich.» Claire deutete auf ihren dicken Bauch. «Da ist doch irgendetwas faul.»

      «Selbst wenn etwas faul sein sollte», erwiderte ich. Was ich bezweifle, fügte ich im Stillen hinzu. «Selbst wenn, so wären Sie bei der Staatsanwaltschaft besser aufgehoben. Ich kann die Klinik anschreiben, allenfalls diesen Doktor Brock um ein Treffen bitten. Erstatten Sie Anzeige. Die Staatsanwaltschaft kann dann ein Verfahren eröffnen.» Ich überlegte kurz. «Natürlich könnte ich die Anzeige für Sie verfassen. Mehr kann ich nicht tun.»

      Manfredo winkte ab. «Eine Anzeige wegen Diebstahls oder was? Wir haben keine Beweise, keine Zeugen. Machen Sie sich nicht lächerlich. Die Staatsanwaltschaft würde keine zwei Minuten für so etwas verschwenden.»

      Claire stiess ihm den Ellbogen in die Seite.

      Ich wollte aufbegehren und ihn zurechtweisen, obwohl er Recht hatte: Mit einer Anzeige wegen mutmasslich entwendeter Eizellen würden die Corazollas bei der Staatsanwaltschaft ins Leere laufen. Bevor ich aber etwas sagen konnte, läutete mein Handy. Ich sah kurz auf die Nummer. Es war Béjart, mein Bekannter bei der Polizei. Ich würde ihn später zurückrufen. Ich sah auf und direkt in Claires veilchenblaue, mit Tränen gefüllte Augen.

      Sie griff nach meinen Händen. «Helfen Sie uns. Bitte.» Mit einer Hand wischte sie eine Träne weg. «Wenn Sie herausfinden, dass die drei Eizellen weggeworfen wurden, in Ordnung. Dass sie unsachgemäss behandelt wurden und nicht mehr zu gebrauchen waren, ebenfalls in Ordnung. Damit kann ich, damit können wir leben. Aber mit dem Gedanken, dass vielleicht irgendwo ein Kind von Manfredo und mir zur Welt kommt, ausgetragen von einer anderen Frau, dass dieses Kind in eine andere Familie geboren wird, von Fremden aufgezogen wird, damit kann ich nicht leben.»

      Ich wollte etwas erwidern, aber Claire ergriff bereits wieder das Wort. «Stellen Sie sich vor, in zwanzig Jahren ist da eine junge Frau. Sie findet heraus, dass sie mit ihrer Familie nicht blutsverwandt ist, dass sie die Folge einer Unregelmässigkeit in einer IVF-Klinik ist.» Claire schlug sich die Hand vor den Mund. Sie rang nach Fassung. Dann fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht, setzte sich gerade hin. «Gehen Sie der Sache nach. Wir zahlen Ihnen einen Stundenansatz von 400 Franken.» Claire sah mir in die Augen.

      Ich horchte auf. Das war beinahe das Doppelte meines üblichen Honorars.

      «Ausserdem», fuhr Claire fort, «ausserdem möchten wir Ihnen einen Vorschuss überweisen. Wir hatten an 10 000 Franken gedacht.»

      Mir stockte der Atem.

      «Wir wissen, dass Sie das wert sind.» Claires Stimme war leise, aber bestimmt.

      Mein Handy gab einen Summton von sich. Eine SMS war eingegangen. Das kam mir gelegen, ich brauchte etwas Zeit, um mich zu sammeln. Um zu überlegen, ob ich den Vorschuss annehmen sollte. Ob ich den Auftrag annehmen sollte. Ich griff nach dem Telefon und sah mir die SMS an.

      «Moira, ruf mich zurück», stand da. «Es ist jemand gestorben.»

      2

      Ich lernte Jan in einer regnerischen Freitagnacht kennen. Ich war mit einer Studienkollegin quer durch Zürichs Ausgehlokale gezogen, und schliesslich landeten wir in einer kleinen Bar am Kreuzplatz, unweit von meiner damaligen Studentenbude, einer wenig heimeligen Einzimmerwohnung an der Asylstrasse. Die Bar gibt es schon längst nicht mehr, das ganze Gebäude ist abgerissen worden. Damals war sie mein zweites, gemütlicheres Zuhause. In dieser Freitagnacht, es musste kurz vor Mitternacht gewesen sein, war die Bar spärlich besucht. Ich sass mit meiner Freundin an einem Tisch in der Mitte, Jan mit zwei Bekannten am Tisch vor unserem. Er warf mir immer wieder verstohlene Blicke zu, aber wenn ich ihn dabei ertappte, schaute er schnell woanders hin. So was passierte mir damals oft. Es war keine Seltenheit, dass mir ein Wildfremder in einem schummrigen Lokal verstohlene Blicke zuwarf. Meine Haut mit der Farbe von Milchkaffee, meine langen Beine und meine grünen Augen schienen die Männern unwiderstehlich anzuziehen. Trotzdem war es diesmal anders. Es war besonders. Vielleicht lag es an seinen stahlblauen Augen, die in seltsamem Kontrast zu seinem schmächtigen Körper standen. Vielleicht lag es an seinem flüchtigen, schüchternen Lächeln.

      Irgendwann fasste er sich ein Herz und prostete mir mit seinem Bierglas zu. Ich sah, welche Überwindung ihn dies kostete. Das musste belohnt werden. Ich sagte zu meiner Freundin, ich sei gleich wieder da, stand auf und ging auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich ungläubig.

      «Ich bin Moira», sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.

      «Ich bin Jan», sagte er und schüttelte meine Hand. Er sah mich lange an. «Du bist schön», sagte er.

      «Ich weiss», antwortete ich. Dann setzte ich mich neben ihn. Wir unterhielten uns. Wir sprachen über das Studium – er studierte Kunstgeschichte, ich Rechtswissenschaften. Wir sprachen über Kunst, über Bücher und vor allem über uns selbst. Jan war klug. Irgendwann verabschiedete sich meine Kollegin und auch seine Bekannten gingen ihres Weges. Irgendwann kam der Inhaber der Bar und kündigte die Schliessung an.

      Für den Weg von der Bar zu mir nach Hause benötigten wir über eine Stunde. Wir waren klatschnass vom Regen, spürten aber weder Nässe noch Kälte. Danach waren Jan und ich für ein paar Monate zusammen.

      Dann brach ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion meine Zelte in Zürich ab. Ich verfrachtete meinen ganzen Krempel in das Haus meiner Mutter an der Seidenstrasse in Winterthur und bereiste für einige Monate die USA. Ich lebte in San Francisco und arbeitete illegal in einer Sandwichbude, Seite an Seite mit chinesischen Immigranten. Es zog mich nach Las Vegas und schliesslich ins Death Valley. Ich schien nach etwas zu suchen, was ich verloren hatte. Etwas, von dem ich selbst nicht wusste, was es war. Natürlich fand ich es nicht. Ich fand nicht einmal zu mir selbst. Meine Reise war vergeblich gewesen. Es schien, als hätte sie einem einzigen Zweck gedient: Jan zu entkommen. Jans Liebe zu entkommen. Liebe kann sanft sein und erbauend. Liebe kann dem Liebenden aber auch den freien Willen nehmen. Ihm das Gefühl geben, im freien Fall zu sein ohne Aussicht auf eine sanfte Landung. Ich schien Liebe nicht gut zu ertragen. Vielleicht, weil ich sie nicht gewohnt war.

      Ich hätte Jan im Voraus informieren können. Ich hätte ihn anrufen können. Oder ihm einen Brief schreiben. Ich tat nichts davon. Als ich irgendwann in die Schweiz zurückkehrte und mein Studium wieder aufnahm, war Jan neu liiert. Ich gönnte es ihm. Ich freute mich für ihn. Ehrlich. Ich zog in eine Wohngemeinschaft in Winterthur und fuhr da fort, wo ich vor Jan aufgehört hatte: Ich arbeitete daran, mich Stück für Stück in meine Einzelteile zu zerlegen. Wobei Alkohol keine unerhebliche Rolle spielte. Das war vor fünfzehn Jahren. Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt.

      Ein paar Jahre später traf ich Jan zufällig im Salzhaus. Er trug noch immer enge Jeans und ein weisses Hemd, wie ehedem. Wir waren beide gekommen, um eine Band zu sehen, Element of Crime. Vor Beginn des Konzerts standen wir an der Bar und unterhielten uns über Belanglosigkeiten. Unser Gespräch war angestrengt, die frühere Vertrautheit war uns abhandengekommen. Jan hatte mir das abrupte Ende unserer Beziehung noch immer nicht verziehen. Nach wenigen Minuten betrat Norah das Salzhaus. Ich kannte sie von früher, sie war eine Freundin meiner Schwester gewesen. Sie kam vom Eingang her auf uns zu, gross und schlank und blond, ein Hingucker.

      «Moira», sagte


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