Tod in Winterthur. Eva Ashinze
nicht sichern. Denen es zu mühsam ist, erst einen Code eingeben zu müssen. Bei mir ist das nicht der Fall. Aber ich bin von Natur aus misstrauisch. Ich gehe bei allen grundsätzlich einmal vom Schlechtesten aus.
Ich sah mir die Liste mit den ein- und ausgehenden Anrufen der letzten Tage an. Es waren merkwürdig wenige. Norah schien ihre sozialen Kontakte auf jeden Fall nicht per Handy zu pflegen. Zwei Nummern waren am häufigsten aufgeführt. Eine Nummer gehörte zu Jan, die andere zu einer Rebecca. Ich wählte letztere. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es sich um Norahs engste Freundin handelte. Tägliche Telefonate führt man nicht mit der Putzfrau. Und wie ich in Erinnerung hatte, hatte Norah keine Geschwister.
Eine weibliche Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. Ich hatte richtig gelegen. Rebecca war Norahs Freundin. Sie war erschüttert, als ich ihr die Neuigkeiten berichtete. Sie versprach, Norah am späteren Abend abzuholen und mit zu sich zu nehmen. Norah konnte vorerst bei Rebecca wohnen. Ich war erleichtert. Norah einen Tag lang bei mir aufzunehmen, war eine Sache. Sie über einen längeren Zeitraum in meiner Wohnung zu haben eine vollkommen andere. Dafür wäre die grösste Wohnung zu klein. Ich brauche das Alleinsein. Die Einsamkeit.
Ausserdem war Norah für mich eine Fremde. Klar, sie war mit meiner Schwester befreundet gewesen. Aber das war lange her, und ich hatte sie nie gut gekannt. Ich nahm an, sie wollte mich als Anwältin mandatieren. Weswegen sonst hatte sie mich am Morgen anrufen lassen? Vielleicht würde ich als ihre Anwältin Ansprüche gegen Jans Mörder geltend machen müssen. Vielleicht würde ich als ihre Anwältin aber das bestmögliche Strafmass für sie als Mörderin von Jan herausschlagen müssen. Das war ein unwahrscheinliches Szenario, aber ich musste alles in Betracht ziehen. Ich wusste nicht, was die nächsten Tage brachten. Welche Beweise, Indizien oder Ergebnisse schliesslich vorliegen würden. Deswegen war es besser, ich liess mich nicht zu stark auf Norah ein. Deswegen war es besser, ich hielt eine gewisse Distanz.
Ich schaltete Norahs Handy aus und verstaute es wieder in meiner Tasche. Zuvor hatte ich einen kurzen Blick auf ihre neusten Mails, SMS und WhatsApp Nachrichten geworfen. Ich kam mir schäbig vor, aber wo ich das Handy schon mal hatte, wollte ich die Gelegenheit nutzen. Es gab weder im Posteingang noch bei den Textmitteilungen etwas Auffälliges; kein Mordkomplott war per Mail geschmiedet, kein reumütiges Geständnis per SMS an eine Freundin versandt worden. Auffällig war höchstens, dass Norah sehr wenige Mails und Nachrichten versandte beziehungsweise erhielt. Mit Rebecca hatte sie ab und zu gesimst und auch mit einigen anderen, aber immer ziemlich unverbindlich. Abmachungen zum Pilates und solches Zeugs. Die Mails bestanden zur Hauptsache aus Werbekram. Norah nutzte die sozialen Medien noch weniger ich. Aber es passte zu den spärlichen Telefonaten. Norah schien ein ziemlich einsamer Mensch zu sein, das war die Erkenntnis, die der schnelle Blick in ihr Handy mir lieferte.
Ich stand auf, um mich um meinen Mandanten zu kümmern, der noch immer in der Küche auf mich wartete.
7
Der Mann erhob sich, als ich die Küche betrat. Mein Halb-vier-Uhr-Termin war er definitiv nicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
«Frau van der Meer?», fragte er. «Moira van der Meer?»
Ich antwortete nicht. Spontane Besuche von potentiellen Klienten kann ich nicht ausstehen. Ich führe schliesslich kein Reisebüro, sondern eine Anwaltskanzlei. Ich musterte den Mann. Er war gross und früher wohl schlank gewesen, doch nun hatte er einen unübersehbaren Bauch und wirkte auch sonst irgendwie massig. Aufgeschwemmt. Auf seinem rosigen Schädel wuchs flaumiges blondes Haar, und seine Augen waren hellblau, das Weisse rot geädert. Instinktiv verspürte ich Abneigung dem Unbekannten gegenüber. Ich mochte ihn nicht.
«Ich bin Paul Petersen», sagte er. Er sah mich an, als müsste mir das etwas sagen. Als müsste ich Bescheid wissen. «Jan Krügers Partner. Geschäftspartner», fuhr er auf mein Schweigen hin fort.
Ich atmete ein. Ich konnte Alkohol riechen. Paul Petersen hatte in den letzten Stunden offensichtlich getrunken. Es schien ihm nicht gut zu gehen.
«Es tut mir leid wegen Jan», sagte ich.
Er antwortete nicht. Statt dessen zog er ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase. Auch eine Möglichkeit, seine Gefühle zu zeigen. «Kann ich mit Ihnen reden?», fragte Paul.
Eine etwas merkwürdige Frage. Weswegen war er sonst hierhergekommen? «Deswegen sind Sie hier, nehme ich an», entgegnete ich. Ich führte ihn in mein Besprechungszimmer. Wir sassen uns gegenüber.
Paul schwieg.
«Also», hakte ich schliesslich ungeduldig nach. Ich wollte meinen nächsten Mandanten nicht unnötig lange warten lassen.
«Jan wurde ermordet», sagte Paul.
Ach was. Das waren ja Neuigkeiten. «Ich weiss», sagte ich lapidar. Wieder herrschte Schweigen. «Sind Sie deswegen hier?», fragte ich. Diese Unterhaltung strengte mich an, obwohl sie gar noch nicht richtig begonnen hatte.
Paul starrte vor sich hin. «Ich habe Jan gesehen. Heute Morgen. Wir hatten ein Meeting mit einem wichtigen Klienten. Vorher wollten wir bei ihm zu Hause noch zwei, drei Details besprechen.»
Ich hatte gewusst, dass Jan einen Geschäftspartner hatte. Ich hatte ihn mir nur anders vorgestellt. Etwas weniger vierschrötig vielleicht. Aber der erste Eindruck kann natürlich täuschen. Wahrscheinlich hatte Paul ebenfalls Kunstgeschichte studiert und mit summa cum laude abgeschlossen.
«Weshalb?»
«Weshalb was?» Paul sah mich erstaunt an.
«Weshalb wollten Sie bei Jan zu Hause geschäftliche Dinge besprechen? Weshalb nicht im Büro?»
Als ich mich mit Jan beruflich unterhalten hatten, war das in einem Zweihundert-Quadratmeter-Loft im Sulzerareal passiert, das eher Ähnlichkeiten mit einer Galerie hatte denn mit einem simplen Büro.
«Mal so, mal so. Jan hat in letzter Zeit lieber von zu Hause aus gearbeitet. Er ist vielleicht zweimal die Woche im Geschäft aufgetaucht.» Er sah mich an. «Ist das wichtig?»
Ich zuckte die Achseln. «Vielleicht. Vielleicht auch nicht.»
Paul sah etwas irritiert aus.
Mir kam ein Gedanke: «In letzter Zeit, sagten Sie, arbeitete Jan lieber von zu Hause aus. Seit wann?»
Paul zuckte die Schultern. «Ich weiss nicht genau. Seit ein paar Monaten. Ein halbes Jahr vielleicht.» Er sah an mir vorbei.
«Und Sie haben keine Ahnung, weshalb das so war?»
Paul schüttelte den Kopf. Er sah irgendwie verlegen aus. Definitiv nicht wie jemand, der die Wahrheit sagt.
Ich liess es auf sich beruhen. «Fahren Sie fort», sagte ich. «Sie wollten also heute Morgen zu Jan.»
«Genau. Ich wollte zu Jan. Schon von Weitem habe ich die ganzen Leute gesehen, die Polizisten, die Gaffer. Als ich aus dem Auto ausgestiegen bin, haben sie ihn gerade abtransportiert.» Er tastete seine Hemdtasche ab und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. «Darf ich?»
Ich nickte, schob ihm einen Aschenbecher hin und öffnete das Fenster.
«Sie auch?» Er hielt mir das Päckchen hin.
Warum nicht? Mir ist so gut wie jede Gelegenheit zum Rauchen willkommen.
Paul zündete erst mir und dann sich selbst die Zigarette an. Nach einigen Zügen fuhr er mit seiner Schilderung fort. «Ich habe erst gar nicht begriffen, worum es geht. Als die Bahre rausgetragen wurde, dachte ich, es sei ein Unfall passiert. Ich dachte, es sei sie, die da liegt, Norah! Ich wollte rein zu Jan. Die Polizisten haben mich zurückgehalten. Und dann habe ich erfahren, was geschehen ist. Dass Jan tot sei. Ermordet. Erschossen.» Paul nahm sichtlich bewegt einen letzten Zug und drückte seine Zigarette aus. Die Erinnerung machte ihm zu schaffen.
Ich liess ihm Zeit, um sich zu sammeln. «Was wollen Sie von mir?», fragte ich dann.
«Jan hat Sie oft erwähnt», sagte Paul. «Er hat oft von Ihnen gesprochen. ‹Wenn du Probleme hast, dann such Moira van der Meer auf›, hat er gesagt. ‹Sie kann dir helfen.›»