Tod in Winterthur. Eva Ashinze
in Bälde eintreffen, um Norah abzuholen, und vorher musste ich sie noch ein paar Dinge fragen. Ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich schlüpfte in eine weite Baumwollhose und ein T-Shirt und machte mich auf den Weg.
Norah sass an Willys Küchentisch, während er sich am Herd zu schaffen machte. Norah sah noch immer blass und elend aus, die Augen waren geschwollen und rot geädert. Sie versuchte sich an einem schwachen Lächeln. «Moira», sagte sie.
Mein Magen krampfte sich zusammen. Mit dem Schmerz anderer klarkommen ist nicht einfach.
Willy drehte sich zu mir um. «Moira», sagte auch er. «Sie kommen genau richtig. Ich wollte soeben die Hühnersuppe servieren.» Er nahm einen weiteren Suppenteller aus dem Schrank. «Sie essen doch mit, nicht wahr?» Es war keine Frage, mehr eine Feststellung. Trotzdem nickte ich.
«Hühnersuppe ist ein Allerheilmittel, Sie werden sehen, Norah», wagte Willy zu Norah und berührte mitfühlend ihre Schulter. «Sie hilft auch gegen Kummer.»
Norah antwortete nicht, aber ich konnte sehen, wie sie wieder mit den Tränen kämpfte. Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand in meine Hände. «Wie geht es dir, Norah?» fragte ich.
Sie zuckte die Achseln. War auch ein bescheuerte Frage, zwölf Stunden nachdem man den eigenen Mann tot aufgefunden hatte. Aber irgendwie musste ich anfangen.
Ich beugte mich vor. «Norah, wir müssen reden», sagte ich.
In dem Moment stellte Willy dampfende Teller vor uns hin. «Sie können reden, Moria. Aber erst nach dem Essen», sagte er bestimmt. Die schöne, unglückliche Norah weckte seinen Beschützerinstinkt.
Ich verzichtete darauf, Widerstand zu leisten. Wenn Willy sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war man gut beraten nachzugeben. Ausserdem hatte ich Hunger. Schweigend löffelten wir die Suppe mit Hühnerbrust, Koriander und Karotten. Dazu reichte Willy eine aufgebackene Baguette. Es schmeckte herrlich. Ich schlug mir trotz der traurigen Umstände den Bauch voll und schämte mich etwas dafür.
Norah ass nur zwei, drei Bissen und rührte ansonsten in der Suppe herum.
Nach dem Essen setzten Norah und ich uns ins Wohnzimmer.
Willy machte sich derweil in der Küche zu schaffen. Er kam noch einmal kurz herein und stellte zwei Gläser vor uns auf den Beistelltisch. Sie waren zu einem Drittel gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
«Das beruhigt und tröstet», sagte er zu Norah.
Sie sah ihn dankbar an und nahm einen Schluck. Ich tat es ihr gleich. Der Whiskey brannte in meiner Kehle, und mir wurde warm ums Herz. Willy hatte nicht immer Recht. Aber oft.
«Norah, die Staatsanwältin würde dich morgen gerne ausführlich befragen. Bist du dazu in der Lage? Ich werde dabei sein», fügte ich schnell hinzu, als ich ihren erschrockenen Gesichtsausdruck wahrnahm. Die Kummer hatte mich angerufen, als ich das Büro bereits verlassen hatte. Sie drängte auf eine schnelle Einvernahme, was nachvollziehbar war. Die ersten Tage nach einer Tat sind immens wichtig für eine erfolgreiche Untersuchung. Kummer war sehr freundlich gewesen am Telefon, beinahe schon freundschaftlich. Norah schien definitiv nicht auf der Liste der möglichen Verdächtigen zu stehen.
Norah gab keine Antwort, sondern trank erneut von ihrem Whiskey. Dann sah sie mich an. Ich konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht deuten.
«Jan hat dich immer geliebt.»
Der Themenwechsel irritierte mich, und ich war um eine Antwort verlegen.
«Er hat es nicht gesagt. Aber ich habe es gespürt. Er hat dich geliebt. Sogar als du nur noch ein Abbild deiner selbst warst, hat er dich geliebt.» Sie klang spöttisch und verletzt zugleich. Mit einer Hand warf sie ihr langes blondes Haar über die Schultern zurück. Eine trotzige Geste.
«Du irrst dich», sagte ich heiser. «Das mit uns war lange vorbei.»
«Für dich vielleicht.» Norah trank einen Schluck. Ihr Glas war schon beinahe leer. «Es spielt keine Rolle. Mich hat er auch geliebt. Auf eine andere Art. Das mit dir, das war», sie suchte nach Worten, «das war … Keine Ahnung, was das war.» Heftig stellte sie ihr Glas zurück auf den Glastisch. Ihre Stimmung hatte plötzlich umgeschlagen, sie schien nun wütend.
«Es tut mir leid», sagte ich. Dabei wusste ich nicht einmal, was mir leid tun sollte. Ich war mir keiner Schuld bewusst.
«Was wolltest du mich fragen?» Norah beendete das Thema abrupt. «Ach ja, die Befragung. Ich weiss nicht. Was meinst du? Du bist die Anwältin.»
«Es wäre gut, wir könnten der Aufforderung der Staatsanwältin Folge leisten. Je schneller die Polizei alle Informationen hat, desto schneller werden sie den … den Täter finden.» Ich hatte Mörder sagen wollen, aber das klang mir zu brutal. So endgültig. «Natürlich nur, wenn du meinst, du schaffst das», fügte ich an.
Norah nickte. Ihr Gesicht, das vorher vom Whiskey leicht gerötet gewesen war, war nun noch blasser als zuvor. «Es wird schon gehen», sagte sie leise.
«Gut.»
Wir schwiegen eine Weile. Norah schien in ihre eigene Welt abzudriften, sie starrte blicklos vor sich hin.
Ich räusperte mich. «Ich sollte vor der Einvernahme über ein paar Dinge Bescheid wissen», nahm ich vorsichtig den Faden wieder auf. «In Ordnung?»
Keine Reaktion.
Also fing ich an. «Norah, wo hast du die Nacht verbracht?»
Sie sah mich lange an, ohne etwas zu sagen.
Ich schlug unruhig ein Bein über das andere, nippte an meinem Whiskey. Ich fragte mich, ob ihre Gedankenversunkenheit dem Temesta zuzuschreiben war oder dem Schock.
«In einem Hotel», meinte sie dann leise.
«In einem Hotel? Wo? Kann das jemand bestätigen?» Es fiel mir schwer, meine Ungeduld im Zaum zu halten. Norahs Lethargie schien meinen Aktivismus zu steigern.
Norah starrte wieder stumm vor sich hin.
«Norah.» Ich versuchte, sie zu erreichen. Wider Erwarten gelang es mir.
Auf jeden Fall begann Norah zu sprechen. «Vor ein paar Wochen wollte ich spontan mit einer Bekannten essen gehen», sagte sie. «Im ‹Sotto Voce›, kennst du das? Hinter dem Bahnhof.»
Ich nickte. Ich fragte mich, worauf sie hinauswollte.
«Jan hatte ein Geschäftsessen. Hatte er mir zumindest gesagt. Es würde lange dauern. Meine Bekannte und ich haben das ‹Sotto Voce› betreten. Ich habe Jan entdeckt. Mit einer Frau. Mit einer anderen Frau.» Sie schien das Erlebte im Geist Revue passieren zu lassen. «Das ist schon mal vorgekommen. Es war nichts etwas Ernstes. Er ist zu mir zurückgekommen. Aber diesmal. Er hat diese Frau angeschaut mit einem Blick … Mit einem Blick, den er sonst nur hatte, wenn er von dir gesprochen hat.» Sie sah mich an.
Das war definitiv keine Antwort auf die Frage, die ich ihr gestellt hatte. Ich konnte den roten Faden in Norahs Schilderung nicht sehen. Wohin wollte sie mich führen? Ich bezwang meine Ungeduld und beschloss zu warten.
«Ich habe zum ersten Mal befürchtet, Jan könnte mich verlassen. Das ging nicht. Ich hätte es nicht ertragen. Es … ». Ihre Stimme brach. «Es ging einfach nicht. Wir haben keine Kinder. Jan ist alles für mich. Er ist mein Leben.»
Norah sprach in der Gegenwart von Jan. Sie wusste mit dem Verstand, dass Jan tot war. Aber sie hatte das Ausmass ihres Verlustes noch nicht vollends begriffen.
Norah barg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Dann sammelte sie sich und griff nach ihrem Glas. Es war leer, trotzdem führte sie es zum Mund.
«Was hast du getan?», fragte ich. Ich wollte diese Befragung möglichst schnell hinter mich bringen. Ich sehnte mich nach einem weiteren Glas Wein und einer Zigarette. Ich sehnte mich danach, meine Ruhe zu haben, nicht gestört zu werden durch Norahs Schmerz.
«Nichts.» Norah öffnete die Hände weit, als wolle sie mir zeigen, dass sie leer waren. «Ich habe nichts