Tod in Winterthur. Eva Ashinze
wusste der Einbrecher, dass da viel zu holen war. Zufällig hatte er eine Waffe in der Tasche. Ein bisschen viele Zufälle für meinen Geschmack.» Ich wartete nicht ab, ob einer der beiden etwas darauf erwidern wollte, sondern wandte mich ab. «Ich werde dann mal zu Norah gehen.»
4
Ich ging quer über den Rasen auf den Pavillon zu. Das Gras war saftig grün, in den Lavendelbüschen summten die Bienen, und da und dort flatterte ein bunter Schmetterling durch die Gegend. Ein idyllischer Spätsommermorgen für den Betrachter, der das Blutbad im Inneren des Hauses nicht sehen konnte.
Die Kriminaltechniker waren an der Arbeit, Jan war bereits abtransportiert worden. Die Blutspuren auf Teppich, Sofa und Holzdielen sprachen ihre eigene Sprache. Eine Sprache der Gewalt. Der Sinnlosigkeit.
Ich hoffte, Norah war tatsächlich unschuldig. Das hoffte ich vor allem um meinetwillen. Norah hatte meine Schwester Maria gekannt und gemocht. Mein Leben mit Maria hatte vor vierundzwanzig Jahren abrupt geendet. Erinnerungen waren das einzige, was ich hatte. So gesehen bedeutete Norah mir viel, auch wenn ich sie kaum kannte. Jan hatte mir auch viel bedeutet. Ich versuchte, all diese Gedanken abzuschütteln. Sie waren im Moment nicht hilfreich. Sie verwirrten mich.
Ich hatte den Pavillon erreicht. Bevor ich Norah gegenübertrat, sammelte ich mich. Dann ging ich zu ihr unter das Blätterdach. Norah sass auf der halbrunden, schmiedeeisernen Bank und schaute zu Boden. Sie weinte nicht. Sie schien noch immer unter Schock zu stehen, ihr Gesicht war fahl und angespannt. Ich ging zu ihr und setzte mich neben sie. Norah sah weiter zu Boden.
«Norah», sagte ich sanft und legte ihr meine Hand auf die Schulter. «Norah, ich bin jetzt hier. Alles wird gut.» Es war eine Floskel, nicht mehr. Ich wusste, dass nichts mehr gut werden würde. Ein Mensch war tot.
«Nichts wird gut.» Norah durchschaute den billigen Trick. Sie hob den Kopf und sah mich an. Im diffusen Licht im Pavillon schienen ihre Augen nicht mehr blau, sondern nachtschwarz zu sein. Nachtschwarz und voller Verzweiflung. «Nichts wird gut», wiederholte sie. Dann fing sie endlich an zu weinen. Erst lautlos, die Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihr Mund war verzerrt. Sie begann zu schluchzen, und das Geräusch steigerte und steigerte sich, bis Norah vor Kummer und Gram erstickte Schreie von sich gab. Wortlose Schreie, die mich umso mehr ins Mark trafen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Béjart sich dem Pavillon näherte. Seine Miene war besorgt, und ich konnte ein lautloses «Brauchst du Hilfe?» von seinen Lippen ablesen. Unauffällig winkte ich ab. Norah sollte ihrer Trauer freien Lauf lassen. Vielleicht half es. Vielleicht auch nicht.
Irgendwann verstummte Norah. Sie schniefte noch ein paar Mal, dann kramte sie ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.
«Willst du reden?», fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf.
«In Ordnung», sagte ich. «Wir müssen nicht reden. Nicht jetzt.» Ich wollte noch etwas sagen, überlegte es mir aber anders.
Norah hob den Kopf und sah mich an. «Danke», sagte sie. «Du verstehst. Du hast das auch erlebt. Mit Maria.»
Wieder wollte ich etwas sagen. «Nein», wollte ich sagen. «Ich habe das nicht erlebt. Jan ist tot. Ermordet. Maria ist nur verschwunden.» Ich sagte nichts. In diesem Moment spielte es keine Rolle. Nicht für Norah.
«Komm mit», sagte ich stattdessen. «Wir gehen nach Hause.» Norah konnte nicht hier bleiben. Sie konnte nicht zurück in dieses Haus gehen; das musste ich ihr ersparen. Und sowieso durfte sie in den nächsten Tagen nicht hinein. Nicht, solange die kriminaltechnischen Ermittlungen nicht abgeschlossen waren. Ich half Norah beim Aufstehen. Erst jetzt nahm ich sie als Ganzes wahr. Sie war noch immer gross und schlank. Sie trug eine schmal geschnittene schwarze Hose und ein ebenfalls schwarzes Oberteil. Die blonden Haare fielen ihr lang und glatt über den Rücken. Die Füsse steckten in hochhackigen Pumps, die Fingernägel waren rot lackiert. Alles war perfekt. Norah war perfekt. Eine schöne, perfekte Frau. Eine unglückliche Frau.
Ich legte Norah den Arm um die Hüfte und führte sie durch den Garten zur Einfahrt. Becker trat mir in den Weg.
«Wir müssen sie vernehmen», sagte er.
«Nicht mehr heute», antwortete ich.
Becker wollte etwas erwidern, aber ich schnitt ihm das Wort ab. «Sie ist nicht verdächtig. Also lassen Sie uns gehen.» Ohne seine Entgegnung abzuwarten, ging ich mit Norah zu meinem Auto. Meist war ich mit dem Fahrrad unterwegs, aber heute Morgen hatte ich intuitiv dem Auto den Vorzug gegeben, als ich mich auf den Weg ins Büro gemacht hatte. Als hätte ich geahnt, dass ich es brauchen würde. Ich seufzte leise. Der Morgen schien ewig lange her zu sein.
Béjart sah mir in die Augen.
Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Es konnte Missbilligung sein. Oder Bewunderung. Auf jeden Fall machte er keine Anstalten, uns aufzuhalten. Ich setzte Norah auf den Beifahrersitz, schnallte sie an und schloss die Tür. Dann fuhr ich los. Ich würde sie zu mir nach Hause fahren, ihr die Treppe hinauf und in mein Bett helfen. Ich würde Norah ein Beruhigungsmittel verabreichen – ich hortete ein paar Temesta für Notfälle. Dann würde ich zusehen, wie sie einschlief. Schlaf war heilsam. Und dann würde ich ihren Schlaf bewachen.
5
Ich beobachtete Norah eine Weile, während sie schlief. Sie lag reglos auf der Seite, die Knie angezogen und die Hände nahe am Gesicht. Embryonalstellung. Ihr Gesicht war verquollen und verriet die Qualen der letzten Stunden. Ansonsten sah sie ruhig und friedlich aus, ihr Atem klang gleichmässig. Dieses Bild war trügerisch. Norah würde lange keinen Frieden finden. Sie würde nie mehr die alte sein. Sie war jetzt schon eine andere Frau.
Ich ging in die Küche, zündete mir eine Zigarette an und öffnete das Fenster. Die Mittagssonne strahlte heiss vom Himmel. Der Sommer ist nicht meine Jahreszeit. Da liegt zu viel Fröhlichkeit in der Luft. Zu viel Glückseligkeit. Ich wünschte mir, dunkle Wolken würden aufziehen, ein starker Regen einsetzen.
Ich kochte mir einen starken Kaffee und rauchte eine weitere Zigarette. Ich rekonstruierte für mich den Ablauf der Tat: In der Tatnacht war das Opfer alleine zu Hause gewesen. Offensichtlich war Jan lange aufgeblieben. Vielleicht hatte er gearbeitet. Ein Glas Wein getrunken. Irgendwann war der Einbrecher zur Hintertür hereinmarschiert, hatte Jan überrascht, ihn mit mehreren Schüssen niedergestreckt und anschliessend die Wertgegenstände mitgehen lassen. Die Schüsse waren unbemerkt geblieben. Kein Nachbar hatte die Polizei gerufen. Am Morgen kam Norah nach Hause und fand Jans Leiche. Die Polizei kam. Die Kriminaltechnik kam. Später stiess ich dazu.
Ich nahm einen langen Zug und hielt eine Weile den Atem an, bevor ich den Rauch wieder ausstiess. Ich sah in den strahlend blauen Himmel hinauf. Das Diebesgut. Die offene Tür. Die Waffe. Die Schüsse. Jan, tot. Norah, schlafend in meinem Bett. Etwas fehlte. Aber was? Ich rauchte zu Ende, drückte die Zigarette aus. Ich versuchte zu glauben, dass ich es mit einem ganz normalen Fall zu tun hatte. Es gelang mir nicht wirklich.
Mein Telefon läutete. Ich erkannte die Nummer, zögerte kurz und nahm dann ab.
«Moira», sagte mein Vater. «Ich hatte einen Traum. Ich habe geträumt, du brauchst meine Hilfe.»
Ich hatte vierundzwanzig Jahre lang keinen Kontakt zu meinem Vater gehabt. Er war nach Nigeria, in seine Heimat abgehauen, als ich fünfzehn war und meine kleine Schwester Maria dreizehn. Seither hatte ich jeglichen Versuch einer Kontaktaufnahme von seiner Seite abgewehrt. Ignoriert. Bis vor ein paar Monaten. Ich hatte den Tod eines jungen Mädchens untersuchen müssen. Dabei war meine eigene, relativ erfolgreich verdrängte Vergangenheit wieder aufgekocht. Meine verschwundene Schwester. Meine dysfunktionale Mutter. Der abwesende Vater. Schliesslich hatte ich zum Telefon gegriffen und ihn angerufen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte ich wieder die Stimme meines Vaters gehört. Seither standen wir sporadisch in Kontakt. Nicht, dass wir jetzt die besten Freunde wären. Dass die Vergangenheit überwunden und die Verletzungen geheilt wären. Aber wir befanden uns in einem Prozess der Annäherung.
«Vielleicht», antwortete ich meinem Vater, «vielleicht brauche ich tatsächlich Hilfe.» Ich erzählte ihm von meinem neusten Fall. Nicht der Fall der verschwundenen Eizellen.