Tod in Winterthur. Eva Ashinze
ich tun?», fragte ich seufzend.
«Tu, was du immer tust», antwortete mein Vater. «Geh den guten Weg.»
Tja, was sollte ich sagen? Das half mir nicht wirklich weiter.
«Das ist dein Name, weisst du? Mmesoma. Der gute Weg.»
Ich verstand nur Bahnhof.
«Der Name findet einen. Nicht umgekehrt», fuhr mein Vater fort.
«Ich verstehe nicht», sagte ich. «Mein Name ist Moira.»
«Moira ist der Name, den deine Mutter dir gegeben hat. Er bedeutet Schicksal. Mmesoma ist der Name, den deine Ahnen für dich ausgesucht haben. Der gute Weg.»
Ich schwieg eine Weile. Ich musste das Gehörte erst einordnen. «Ich wusste nicht, dass ich einen zweiten Vornamen habe», sagte ich schliesslich.
«Nein. Deine Mutter wollte es so. Eine Erwähnung dieses Namens, und sie ist explodiert. Du kennst sie ja.» Ein glucksendes Lachen war zu hören.
Ich konnte das nicht lustig finden. Meine Mutter ist Alkoholikerin. Ein Glas zu viel oder zu wenig, ein Wort zu viel oder zu wenig hat einen Wutanfall zur Folge. Das war schon immer so. Deswegen war mein Vater wohl auch abgehauen und hatte mich und meine Schwester Maria mit Mutter allein gelassen. Aber das war eine andere Geschichte.
Moira und Mmesoma. Schicksal und der gute Weg. Vielleicht konnte ich irgendwann etwas damit anfangen. «Und Maria?», fragte ich.
«Was ist mit ihr?», erwiderte mein Vater die Frage.
«Welchen Namen haben ihr die Ahnen gegeben?»
«Ngozi. Gesegnet.»
Nun musste ich ein Lachen unterdrücken. Ein zynisches Lachen. «Da haben sie aber schön danebengegriffen», sagte ich.
Mein Vater schwieg eine Weile. «Deine Schwester ist an einem gesegneten Ort», sagte er. «Wo immer sie auch ist, es geht ihr gut.»
«Woher willst du das wissen?», fragte ich einigermassen aggressiv.
«Ich weiss es. Ich fühle es.»
Ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass ich keinen Deut auf solche Gefühle gab. Das waren Hirngespinste. Wunschdenken.
«Du glaubst mir nicht.» Mein Vater war nicht dumm. «Noch nicht. Aber es wird die Zeit kommen, wo du selbst die Dinge spürst.»
Bald nach dieser rätselhaften Aussage beendeten wir unser Telefonat. Ich war nicht klüger als zuvor. Aber ich war um einen Namen reicher. Mmesoma. Ich sagte ihn leise vor mich hin. Er klang gar nicht mal so übel.
6
Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, Norah beim Schlafen zuzusehen, eine Kleinigkeit zu essen, unzählige Zigaretten zu rauchen und vor allem unruhig durch die Wohnung zu tigern – alles möglichst geräuschlos, um Norah nicht zu wecken. Sie sollte ruhig noch etwas schlafen, bevor sie sich der Wirklichkeit wieder stellen musste. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste raus. Raus aus meinen vier Wänden, raus aus meinem gedanklichen Hamsterrad. Ausserdem hatte ich um halb vier einen Termin in der Kanzlei. Ich vergewisserte mich, dass Norah tief und fest schlief und begab mich ein Stockwerk tiefer zu Willy Morgenroth, meinem Nachbarn und Vermieter. Auf mein Klopfen hin öffnete niemand, also ging ich in den Garten. Bei schönem Wetter ist Willy oft dort anzutreffen. Charlie, sein junger Golden Retriever, lag unter einem Baum im Schatten und liess die Zunge baumeln. Willy hingegen, mit Strohhut und Leinenhemd, machte sich mit einer grossen Heckenschere an ein paar Büschen zu schaffen.
«Willy, sind Sie des Wahnsinns?», fragte ich. «Es ist zu heiss, um draussen zu arbeiten. Und erst noch an der prallen Sonne.»
Willy liess die Schere sinken und wandte sich mir zu. «Moira. Ich habe Sie nicht kommen hören.» Schweisstropfen standen ihm auf der Stirn, und sein Gesicht war gerötet. Diese Hitze war sicher nicht gut für den 75-jährigen Willy. Ich wollte mir um ihn nicht auch noch Sorgen machen müssen.
«Willy, das kann nicht gesund sein. Kommen Sie, machen Sie eine Pause.»
Willy zog ein grosses kariertes Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. «Es ist tatsächlich warm heute», gab er zu. «Aber irgendwann muss ich das erledigen.»
«Irgendwann, aber nicht jetzt. Kommen Sie», sagte ich energisch, «ich habe eine andere Aufgabe für Sie.»
Willy schien froh zu sein, die Gartenarbeit für heute niederlegen zu können. Ohne gross nachzufragen folgte er mir ins kühle Innere des Hauses, Charlie ihm dicht auf den Fersen.
Ich bat Willy zu mir in die Wohnung und informierte ihn bei einem Glas kalten Wassers kurz über die Situation, den ermordeten Jan und die schlafende Norah.
«Wenn Sie ein Augen auf sie haben könnten?», bat ich Willy. «Nur für ein, zwei Stunden, bis ich wieder da bin. Es käme wohl nicht gut, wenn sie aufwacht und niemand ist da.»
«Wo denken Sie hin?» Willy war entsetzt. «Ich gehe mich kurz frisch machen, und dann werden Charlie und ich uns zu der jungen Dame setzen und auf sie aufpassen.»
«Willy, Sie sind ein Schatz», sagte ich.
Er winkte verlegen ab.
Die Anfänge unserer Bekanntschaft gehen zurück auf meinen Einzug in die Dachwohnung an der Rychenbergstrasse. Willy ist Besitzer des Hauses, und eine Klausel im Mietvertrag besagt, dass wir einmal im Monat zusammen zu Abend essen. Willy wollte von Anfang an vermeiden, dass zwischen uns lediglich ein anonymes Vermieter-Mieter-Verhältnis besteht. Nun, darum musste er sich keine Sorgen mehr machen. Aus den monatlichen Abendessen war nach und nach eine Freundschaft entstanden. Diese hatte sich seit dem Fall Maria Okeke intensiviert. Sie war intimer geworden. Ich wusste nun, dass ich Willy vertrauen konnte. Er würde mir zur Seite stehen, was auch geschah.
Meist wusste ich diese neue Vertrautheit in unserer Freundschaft zu schätzen, doch manchmal schreckte ich davor zurück. Ich war es nicht gewohnt, jemanden nahe an mich heranzulassen. Willy war da anders. Er war lange Jahre verheiratet gewesen und pflegte auch nach dem Tod seiner Frau alte Freundschaften, half hier und dort. Er liebte es, eine Aufgabe zu haben. Gebraucht zu werden. Er war auch immer Feuer und Flamme, wenn er mir bei einem meiner Fälle helfen konnte, und sei es nur mit einem guten Rat.
Ich liess ihn also guten Gewissens bei der schlafenden Norah zurück und machte mich zu Fuss auf in mein Büro, ich brauchte die Bewegung. Bereits nach dreihundert Metern bereute ich diese Entscheidung. Es war mittlerweile drei Uhr nachmittags, die Sonne brannte heiss vom Himmel, und meine Leinenbluse war nach wenigen Minuten durchgeschwitzt. Aber da musste ich nun durch. Es war zu spät zum Umkehren. Ich quälte mich den heissen Asphalt entlang und war froh um jedes Bäumchen, das ein wenig Schatten spendete. Sogar zum Rauchen war es mir zu heiss. Erleichtert betrat ich gut zehn Minuten später das Backsteingebäude an der Ecke Wülflingerstrasse/Schaffhauserstrasse, in dem sich mein Büro befindet. In der Eingangshalle passte mich Melvin, mein Büronachbar, ab.
«Du hast Besuch», flüsterte er und wies mit dem Kinn Richtung Küche, die auch unser Aufenthaltsraum ist. Seit einem Einbruch in mein Büro vor ein paar Monaten war Melvin etwas paranoid. In jedem Besucher sah er eine potentielle Gefahr und behielt ihn aufmerksam im Auge.
Erstaunt und wenig erfreut zog ich meine Augenbrauen hoch. Mandanten, die zu spät kommen, sind ein Ärgernis. Mandanten, die viel zu früh kommen, sind eine Unverschämtheit.
Ich schloss die Tür zu meinen Büroräumlichkeiten auf, setzte mich an meinen Schreibtisch und leerte eine Halbliterflasche Mineralwasser. Danach fühlte ich mich etwas besser. Etwas weniger erhitzt. Ich sass einen Moment lang da und überlegte, ob ich tatsächlich tun sollte, was ich zu tun gedachte. Ja, beschloss ich, ich sollte.
Ich zog ein Handy aus meiner Tasche. Norahs Handy. Während sie ihren Dornröschenschlaf schlief, hatte ich einen Blick in ihre Handtasche geworfen und es mitgehen lassen. Was natürlich grenzwertig war. Vom moralischen Standpunkt her. Was den rechtlichen Standpunkt betraf, da befand ich mich bereits voll und ganz in der Illegalität. Aber besondere Umstände verlangen nach besonderen Mitteln.