Tod in Winterthur. Eva Ashinze

Tod in Winterthur - Eva Ashinze


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Essen eingeladen», informierte mich Willy.

      Ich lächelte höflich. Schön für ihn.

      «Es wäre nett, wenn Sie auch dabei wären.» Willy sah mich auffordernd an.

      Mein Lächeln verblasste. Ich wünschte, ich hätte nicht noch bei Willy reingeschaut. Ich wünschte, ich wäre direkt nach oben gegangen.

      Willy und Celina kannten sich aus Kindheits- beziehungsweise Jugendtagen. Sie waren in derselben Strasse gross geworden, in der Seidenstrasse. Willy war mehr als zehn Jahre älter als Celina, deswegen hatten sie sich aus den Augen verloren, als Willy mit Mitte zwanzig von zu Hause auszog. Vor Kurzem hatte Willy durch eine Verkettung von Zufällen ihre Bekanntschaft aber zu neuem Leben erweckt. Nicht gerade zu meiner Freude muss ich gestehen. Ich verstehe mich nicht besonders gut mit meiner Mutter. Nein, das ist eine schamlose Untertreibung. Eigentlich kann ich meine Mutter nicht ausstehen. Dass sie und Willy nun irgendwie freundschaftlich verbandelt waren, war, als dringe sie in mein Revier ein. Willy war mein Freund. «Eher nicht», antwortete ich.

      Willy sah mich bittend an. «Moira. Irgendwann müssen Sie Frieden schliessen mit Ihrer Mutter. Die Vergangenheit hinter sich lassen. Je früher desto besser.»

      Musste ich das? Nein. Ich kam ganz gut damit klar, meine Mutter zu verabscheuen. «Willy, glauben Sie mir, Sie möchten uns nicht beide gleichzeitig an Ihrem Tisch sitzen haben», sagte ich gespielt munter.

      Willy öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ich kam ihm zuvor: «Sie meinen es gut, ich weiss. Aber bei meiner Mutter und mir ist Hopfen und Malz verloren.» Ich erhob mich, um einen visuellen Schlusspunkt unter dieses Gespräch zu setzen.

      «Sie können es sich noch überlegen», sagte Willy.

      Ich nickte: Die Hoffnung stirbt zuletzt. «Gute Nacht, Willy.» Ich legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich schmal und zerbrechlich an.

      «Gute Nacht, Charlie.» Ich streichelte dem jungen Golden Retriever, der zusammengerollt zu meinen Füssen auf dem Boden lag, über den seidigen Kopf. Er gab im Schlaf einen kurzen glücklichen Seufzer von sich. Hund müsste man sein.

      «Gute Nacht, Moira.»

      Unter der Tür drehte ich mich nach Willy um. Er sah plötzlich alt aus, wie er in seinem Sessel sass – alt und irgendwie traurig. Wider Willen verspürte ich den Anflug eines schlechten Gewissens, verdrängte ihn aber. Ich hatte heute genug mitgemacht. Trotzdem blieb ein unguter Nachgeschmack zurück, als ich die Treppen hochging in mein Reich.

      In meinem Schlafzimmer entledigte ich mich meiner Kleidung und schlüpfte in ein übergrosses T-Shirt, das mir als Nachthemd diente. Es war erst kurz nach neun, doch der Tag hatte mich geschafft, körperlich und emotional. Ich goss mir ein Glas Rotwein ein und setzte mich wieder auf die Fensterbank, meinen angestammten Platz für die Gute-Nacht-Zigarette. Ich trank meinen Schlummertrunk, rauchte und lauschte auf die Geräusche aus dem Garten. Grillen zirpten, ab und zu raschelte es im Dunkeln. Vom nahen Waldrand waren die Glocken der Kühe zu hören, die dort ihre Weide hatten. Idylle pur. Die Stadt schien weit weg.

      Ich geriet ins Träumen, dachte an vergangene Sommer, frühere Leben. Ich war beinahe froh, als ein Bus die Rychenbergstrasse entlangfuhr. Ansonsten hätte ich noch angefangen an diesem lauen Sommerabend über Gott und die Welt nachzudenken, mit unabsehbaren Folgen. Eine Flasche Wein hätte ich dazu mindestens trinken müssen. Und irgendwann hätten mich die Erinnerungen an meine verschwundene Schwester eingeholt. So aber holte mich das Geräusch des Motors rechtzeitig auf den Boden zurück.

      Ich ging ins Bad, putzte die Zähne und legte mich ins Bett. Bevor ich einschlief, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Norah nach Paul Petersen zu fragen.

      11

      Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Ich hatte von Jan geträumt. Ich hatte von unserer ersten gemeinsamen Nacht geträumt, von seinem makellosen, glatten Körper. Im Traum strich ich mit der Hand über seinen Brustkorb. Auf einmal waren meine Finger voller Blut.

      «Jan», rief ich. «Jan, was ist los!»

      Jan lachte wie ein Irrer: «Nichts ist los, Moira, nichts. Ich bin nur gerade gestorben.»

      Ich begann zu schreien. Ich wachte von meinen eigenen Schreien auf. Es war heiss und stickig im Schlafzimmer; die Sonne hatte den ganzen Tag auf das Dach gebrannt, und die Wärme hatte sich gestaut. Ich stand auf und liess mir in der Küche kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, benetzte mein Gesicht. Wieder setzte ich mich ans offene Fenster. Draussen war es dunkel, selbst die Strassenlaternen waren aus. Ich sog die nächtliche Luft ein, den schweren Duft der blühenden Pflanzen, den Duft nach Gras, den Geruch des Spätsommers. Ich schloss die Augen und hatte sofort wieder Jans Bild vor mir. Schnell öffnete ich sie und sah zum Himmel hoch. Die Sterne schienen greifbar nahe, und hinter der Tanne der Nachbarn stand der Mond als schmale Sichel am Himmel. Ich sah lange zum Himmel hoch. Ich war bedeutungslos, weniger als ein Staubkorn. Jan war bedeutungslos. Wir alle sind bedeutungslos angesichts der Unendlichkeit. Trotzdem oder vielleicht deshalb begann ich zu weinen.

      12

      Am nächsten Tag weckte mich das Läuten des Weckers um sieben Uhr. Ich war müde und hätte sonst etwas darum gegeben, den Kopf wieder aufs Kissen legen und weiterschlafen zu können.

      Nach meinem Traum war an schlafen nicht mehr zu denken gewesen. Ich hatte lange Zeit auf der Fensterbank gesessen, geweint und um Jan getrauert. Später hatte ich mich zwar wieder ins Bett gelegt, aber mich während gefühlten Stunden hin- und hergewälzt. Entsprechend ging es mir heute. Aber ich musste aufstehen, ich musste in die Kanzlei. Die Fälle stapelten sich auf meinem Schreibtisch, ich hatte ein Plädoyer in einer Strafsache vorzubereiten, ich sollte diverse Schreiben verfassen, Anrufe tätigen. Und ich musste mich an den Fall der verschwundenen Eizellen machen. Immerhin hatte ich einen Vorschuss von 10 000 Franken akzeptiert. Eigentlich sollte dieser Fall sogar absolute Priorität haben.

      Doch die Sache mit Jan und Norah war dazwischen gekommen. Ich fuhr hoch. Jan und Norah. Heute Nachmittag stand auch noch die Einvernahme an. Ich stiess einen Fluch aus, verliess mein Bett und setzte in der Küche Kaffee auf. Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg ins Büro.

      Der Himmel war blau und wolkenlos; es war ein klarer, noch kühler Sommermorgen. Ein Morgen voller Versprechungen, ein Morgen, an dem alles im Bereich des Möglichen schien. Aber bald würde es wieder heiss werden und drückend.

      Vorausschauend nahm ich mein Fahrrad für die kurze Strecke. Ich würde der Mittagshitze später so zwar nicht entgehen können, aber ich konnte sie schneller hinter mir lassen als zu Fuss.

      Im Büro wimmelte ich Melvin ab, der schon vor mir da gewesen war. Er schien seit dem Einbruch das Büro nicht mehr zu verlassen, obwohl er als freier Journalist an keine Zeiten gebunden war. Egal. Solange er mich nicht behelligte, konnte er von mir aus in seinem Büro übernachten.

      Ich erledigte erst die üblichen Routinearbeiten: Post und Mails durchgehen, To-Do-Liste aktualisieren, Tagesplan erstellen. Dann legte ich eine neue Akte an. Eine Akte mit dem Titel «Der Fall der verschwundenen Eizellen».

      Nachdem das erledigt war, sass ich eine Weile ratlos da und fragte mich, wo ich anfangen sollte. Was ich von Corazollas an Unterlagen erhalten hatte, war spärlich und schnell gelesen. Ich beschloss, nicht direkt auf Angriff zu gehen. Ich würde die Wunschkinder-Klinik nicht anschreiben und Aufklärung verlangen. Das würde nichts bringen; es war nicht zu erwarten, dass die Klinik von ihrer bisherigen Aussage abweichen würde, nämlich dass Corazollas sich irrten. Ich musste anders vorgehen, subtiler. Erst einmal würde ich einige Erkundigungen über die Firma einholen und mir selbst ein Bild machen.

      Einige Zeit später lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, schaute zur Decke. Im Internet hatte ich erfahren, dass der Kopf der Wunschkinder-Klinik, dieser Doktor Brock, sich einen Namen innerhalb der Gilde der Reproduktionsmediziner gemacht hatte. Er war anscheinend eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Wer in seiner Klinik einen Termin vereinbarte, der wusste bereits, dass der Star der Babymacher dort das Zepter schwang. Seine Erfolgsrate war hoch, höher als die der anderen. Die Kosten waren wahrscheinlich entsprechend. Die Wunschkinder-Klinik war als Aktiengesellschaft


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